Hutong statt Hallstatt

Von wegen Kopisten: Nicht erst seit Wang Shu zeigt sich, dass sich in China eine Architektenszene mit eigenständigen Ideen entwickelt hat.

Als im Frühjahr unter großem globalem Hallo im südchinesischen Huizhou die geklonte Version des österreichischen Hallstatt eröffnet wurde, war es wieder einmal klar: China kann eben nur kopieren. Made in China, erfunden woanders. Dass dies nicht die ganze Wahrheit ist, zeigte zur selben Zeit die Verleihung des Pritzker-Preises an Wang Shu, einen Architekten, der so eindeutig chinesisch erfindet und baut, dass der Aha-Effekt beachtlich war.

Dabei ist Wang Shu kein Einzelkämpfer, sondern Teil einer vitalen, in ihrer Wendigkeit schwer zu durchschauenden Architektenszene im Reich der Mitte, die jetzt stärker ins Blickfeld gerät. Es sind meist 30- bis 50-Jährige, viele von ihnen mit Erfahrung an westlichen Hochschulen und Büros. Grund dafür ist die spezielle Geschichte des Architektenberufs in China.

Während der Kulturrevolution war er ganz verschwunden, die sechs 1952 gegründeten staatlichen Design-Institute geschlossen. Erst 1980 wurde der Beruf wiedereingeführt. Unter Deng Xiaoping wurden zögerlich und unter Auflagen erstmals auch selbstständige Büros zugelassen. 1997 waren es gerade 17 Stück, im Jahr 2002 schon 500.

Das erste dieser Büros war das 1993 von Yung Ho Chang gegründete FCJZ (Feishang Jianzhu). Chang hatte wie viele Kollegen jahrelang in den USA gearbeitet und gelehrt, wurde Professor in Harvard und am MIT in Boston.

Einer seiner Bauten, das aufgeklappte Doppelhaus Split House, findet sich in der ersten Mustersiedlung zeitgenössischer asiatischer Architektur, der Commune by the Great Wall. Finanziert von den Bauunternehmern Pan Shiyi und Zhang Xin, durften zwölf Architekten in einem abgelegenen Seitental nahe der chinesischen Mauer prototypische Villen errichten. Das Projekt wurde 2002 bei der Biennale Venedig vorgestellt und so zum ersten Signal des baulichen Selbstbewusstseins.

Kubus, Bambus, Bubbles

Diese Mischung aus modernen Kuben und offenkundig asiatischem Bambus-Regionalismus ist ebenso Teil der chinesischen Architektur wie die skuplturalen Blobs, wie sie von Bahrain bis Barcelona von Developern so geliebt werden. Ein Beispiel dafür: das Museum in Ordos, der durch Bodenschätze reich gewordenen Stadt in der Inneren Mongolei, die sich in den letzten Jahren Architektur aus dem In- und Ausland gleich en bloc eingekauft hat.

Der braune Gupf mit dem sakral erleuchteten Innenraum stammt von MAD Architects. Gegründet 2004 in Peking vom Yale-Absolventen und Ma Yansong, gelang MAD auch der Coup, im Westen einen Wolkenkratzer zu bauen: die geschwungen schlingernden Absolute Towers in Toronto.

Sie können aber auch anders: Die erste ihrer Hutong Bubbles, kleine verspiegelte Rundlinge, die als Zusatzwohnraum in die gefährdeten historischen Hutong-Hofhäuser Pekings implantiert werden sollen, um diese sowohl vor Abriss als auch vor der leblosen Musealisierung zu retten, wurde 2009 errichtet.

Oft gehen gerade die Architekten, die Erfahrung im Westen gemacht haben, nach der Rückkehr am sensibelsten mit dem Vorgefundenen um. Häufig sind es Bauten für Museen und Hochschulen, die von den kleineren Büros gebaut werden, während die großen sich um Flughäfen und Stadterweiterungen kümmern dürfen.

"Viele sind wieder zurückgekehrt, als es im Vorfeld der Olympischen Spiele 2008 deutlich wurde, dass es für Architekten hier eine Perspektive gibt", erklärt Sebastian Linack. Der gebürtige Deutsche lebt seit sechs Jahren in Peking und hat dort als Architekt in mehreren chinesischen Büros gearbeitet. "Es sind vor allem die in den 60er-Jahren Geborenen, die diese Gründergeneration bilden."

Auch das Büro MADA s.p.a.m., gegründet 1996 von Qingyun Ma in New York, zog drei Jahre später nach China um. Neben Hochglanzbauten und Masterplänen baut es auch klein und radikal. Paradebeispiel: das Haus, das Ma in Xi'an für seinen Vater baute, ein strenger, steinerner Kasten mit großen Öffnungen zum Garten, angelehnt an die schlichte traditionelle Bauweise vor Ort.

Aus Stein und aus Stroh

Eine ähnliche Neuinterpretation fanden Urbanus aus Shenzhen. Für ihr Urban Tulou in Guangdong griffen sie den Typus der berühmten steinernen Rundbauten aus dem 12. Jahrhundert auf und dachten sie neu als Anlage mit 245 Sozialwohnungen, lösten die traditionellen Schießscharten zu einem feingliedrigen Gitter auf.

Eine weit radikalere Annäherung an das Soziale entwickelte der 1956 in Sichuan geborene Liu Jiakun. Kritischer Geist und sowohl Architekt als auch Schriftsteller, sah er die Unzulänglichkeit der Bürokratie beim Wiederaufbau nach dem Erdbeben in Sichuan 2008 und entwickelte in seinem Rebirth Brick Project eine simple Methode, wie sich aus Trümmern und Stroh einfache Ziegel für den Wiederaufbau herstellen lassen. Ein anrührendes Beispiel für die Verwendung dieser Ziegel ist das Hu-Huishan-Denkmal, eine Gedenkstätte für ein 15-jähriges Mädchen, das beim Erdbeben ums Leben kam.

So ist hinter den Mauern aus gesichtslosen Wohnsiedlungen in China eine selbstbewusste, eigenständige Architektur entstanden, die mit den im Westen geläufigen Kopisten-Klischees nichts gemein hat. Schließlich hat man das Know-how selbst und nicht zu knapp, wie Sebastian Linack weiß: "In China muss man für eine Architektenlizenz berufsbegleitend 20 schwere Prüfungen absolvieren. Wer eine Zulassung hat, ist also in Mathematik, Statik und allen Darstellungstechniken hervorragend ausgebildet."

Natürlich gibt es auch die Rendering-Fabriken, die perfekte Hochglanzbilder für Broschüren brandneuer Wohnviertel produzieren. Doch in einem Land, in dem bis vor 20 Jahren alle Wohnungen staatlich vergeben wurden, will man eben vor dem Kauf genau wissen, wie das Eigenheim aussieht. Und je selbstbewusst chinesischer diese Bauten werden, umso mehr wird die Verschönerung mit Hallstätter Austro-Exotik die Ausnahme bleiben.

(erschienen in: Der Standard, 28./29.7.2012)