Während Pjöngjang sich zum 100. Geburtstag Kim Il-sungs herausputzt, zeigt ein neuer Architekturführer erstmals die Bauten der Stadt
Die Pjöngjanger dürften nicht schlecht gestaunt haben, als Mitte 2008 die älteste Baustelle der Stadt plötzlich wieder zum Leben erwachte. Das monströse, 105-stöckige Ryugyong-Hotel, das 16 Jahre lang als halbfertiger Rohbau vor sich hingebröselt hatte, bekam in Windeseile eine verspiegelte Glasfassade verpasst.
Nachdem die Finanzhilfen aus der Sowjetunion nach deren Ende weggebrochen waren, war die Arbeit an der 330 Meter hohen Pyramide aus Geldmangel eingestellt worden. In den folgenden Jahren schwieg das Regime den peinlichen Schandfleck einfach tot und retuschierte den Bau sorgfältig aus allen offiziellen Fotos heraus.
Ironischerweise ist es ausgerechnet eine ägyptische Firma, die der Pyramide nun ein neues Kleid verpasst. Dass die Orascom Group nicht nur Bau-, sondern auch Telekomkonzern ist und als solcher den Zuschlag zum Aufbau eines potenziell lukrativen Mobilfunknetzes in Nordkorea bekommen hatte, ließ Spekulationen über ein Gegengeschäft aufkommen, die eilends dementiert wurden.
Außer Zweifel steht jedoch, dass sich im April 2012 der Geburtstag des "Ewigen Präsidenten" Kim Il-sung zum hundertsten Mal jährt. Und eine in der ganzen Stadt sichtbare Betonruine als optischer Hintergrund der Feierlichkeiten? Undenkbar!
Ob es bei der Fassadenkosmetik bleibt, oder ob das Hotel inklusive Drehrestaurants tatsächlich in Betrieb geht, wie Orascom-CEO Khaled Bichara verspricht, bleibt fraglich. Kritische Experten vermuten, dass der Beton nach ungeschützten Jahren in Wind und Wetter bereits irreparabel beschädigt sei. Ungeklärt bleibt auch, ob das immerhin 25 Jahre alte Hotel das einzige architektonische Symbol dieses so wichtigen Datums sein wird.
"Bislang wurden zu allen wichtigen Staatsjubiläen immer Monumentalbauten errichtet", erklärt Nordkorea-Experte Rüdiger Frank von der Uni Wien. "Finanziell könnte sich Nordkorea das auch heute noch leisten. Falls es ausgerechnet zum 100. Geburtstag des Staatsgründers kein neues Denkmal geben wird, könnte das auf einen Pragmatismus hindeuten, der für seinen Sohn Kim Jong-il durchaus typisch ist."
Dabei hatte Kim Jong-il 1991, also noch zu Lebzeiten seines Vaters, die programmatische Schrift "Über die Baukunst" verfasst, in der er Architektur, Führerkult und nationale Autarkie als untrennbares Ganzes darstellte - bis hin zu Regeln für die richtige Fußbodenheizung und die bildende Kunst. Wichtigstes Beispiel und Aushängeschild für die nordkoreanische Architektur seit dem Neuaufbau nach der völligen Zerstörung im Koreakrieg war und ist die Hauptstadt Pjöngjang.
Dieser Stadt widmet sich ein soeben veröffentlichter Architekturführer, den der Berliner Architekt und Publizist Philipp Meuser herausgegeben hat. "Pjöngjang ist ein Open-Air-Museum sozialistischer Baukunst", sagt Meuser. "Das ist der einzige Ort auf der Welt, an dem man diese Architektur noch in Reinform findet."
Das Problem, dass in einem Land, das man als Ausländer nur unter ständiger Aufsicht bereisen kann, eine unabhängige Recherche unmöglich ist, löste Meuser mit einem Trick: Band 1 zeigt das offizielle Pjöngjang. Text und Bilder kamen vom staatlichen "Verlag für fremdsprachige Literatur" und wurden hochoffiziell abgesegnet. Band 2, der ohne das Wissen der Nordkoreaner entstand, erklärt und kommentiert den Zusammenhang und versucht, hinter die Kulissen zu schauen.
Die klare Trennung nimmt dem Vorwurf, die Architektur- und Bildproduktion einer Diktatur kritiklos auszustellen, wie sie die Ausstellung "Blumen für Kim Il-sung" im Wiener Mak letztes Jahr traf, den Wind aus den Segeln. "Als Verleger kann ich nicht einfach Propagandamaterial veröffentlichen, man will ja nicht zum Sprachrohr werden", sagt Meuser. "Ich wollte aber auch nicht einfach nur alles durch den Kakao ziehen."
Der Leser kann sich selbst ein Bild machen. Im ersten Teil werden die repräsentativen Bauten wie das Stadion des 1. Mai, mit 150.000 Sitzplätzen das größte der Welt, der zu Kim Il-sungs 70. Geburtstag errichtete Triumphbogen und die bis zu 100 Meter breiten, von Wohnblocks gesäumten menschenleeren Achsen dazwischen mit knappen, nüchternen Texten erklärt. Bauten zwischen Stalinismus und Nachkriegsmoderne, dazwischen traditionelle koreanische Dachformen in Übergröße.
So suggeriert der wie ein gängiger Architekturführer nach Typologien geliederte Band mit Stadtplan im Anhang ganz bewusst, dass man Pjöngjang durchstreifen könne wie jede andere Stadt.
In der Realität ein schwieriges Unterfangen, wie Philipp Meuser bei einem seiner fünf Besuche feststellte: "Als ich meinen koreanischen Begleitern sagte, ich wolle gerne durch ein ganz normales Wohngebiet spazieren, haben sie das nicht verstanden und auch nicht genehmigt. Dafür hieß es bei der nächsten Reise dann plötzlich: 'Wir haben zwei Stunden Zeit, möchten Sie einen Spaziergang machen?'"
Wo wohnt Kim Jong-il?
Der zweite Band, begleitet von kritischen Essays, zeigt das, was der Besucher aus dem Ausland nicht sehen soll: ärmliche Hütten hinter den Wohnblocks, die Allgegenwärtigkeit der Propaganda und den streng geheimen, von einer hohen Mauer umgebenen Wohnsitz von Kim Jong-il. Und natürlich das monströse Ryugyong-Hotel, das im offiziellen Band nur schemenhaft im Hintergrund zu sehen ist.
Kritik schön und gut, aber darf man das überhaupt? Darf man über die Architektur einer totalitären Diktatur berichten, ohne deren gravierende Aspekte zu behandeln? "Natürlich sind Themen wie Menschenrechte oder Nahrungsversorgung wichtiger. Aber ein Architekturführer kann nicht alle Fragen zu Nordkorea beantworten. Wir können nur das zeigen, was man sieht", meint Philipp Meuser. "Außerdem sind die städtebaulichen Kompositionen und die Proportionen der Bauten, wenn man von der Qualität der Ausführung absieht, oft sehr gut."
Das Verweigern einer allzu leichten Pauschalverdammung hat den Verdienst, dass die Lektüre der zwei Bände schlicht neugierig macht auf das normale Alltagsleben der drei Millionen Einwohner Pjöngjangs, das sich - wenn auch auf den Bildern unsichtbar - irgendwo zwischen Jugendpalast und Kim-Il-sung-Mausoleum abspielen muss.
"Die Architektur wird sehr wohl von der Bevölkerung akzeptiert", erklärt Rüdiger Frank, der Nordkorea seit 20 Jahren regelmäßig besucht. "Pjöngjang ist das internationale Aushängeschild des Landes. Da ist man einfach stolz darauf." Man darf gespannt sein, wie es sich 2012 präsentiert.
(Erschienen in: DER STANDARD, 4./5. Juni 2011)