Städte schrumpfen und wachsen, erfinden sich neu. Die Soziologin Anne Power erklärte, was "Phoenix Cities" sind
Wachsende und schrumpfende Städte waren das Thema der diesjährigen Baukulturgespräche beim Europäischen Forum Alpbach. Anhand des akuten Problemfalls Detroit und ausfransender Siedlungsteppiche in Mitteleuropa diskutierten die Fachleute zwei Tage lang darüber, wie man dieser gegenläufigen Trends Herr werden kann.
Die britische Professorin Anne Power forscht seit Jahrzehnten an der London School of Economics über Städte, Wohnungsnot und Armut. 2010 veröffentlichte sie das Buch "Phoenix Cities" über den Fall und Wiederaufstieg europäischer Industriestädte. Mit dem STANDARD sprach sie in Alpbach über Stadterneuerung, Supermaterialien und Martin Luther King.
Ihr Buch über europäische Industriemetropolen trägt den Titel "Phoenix Cities". War der Begriff Ihre eigene Idee?
Power: Ja. Die Symbolik des Vogels, der nach Jahrhunderten zu Asche zerfällt und vorher ein goldenes Ei legt, hat mich sehr fasziniert. Ich habe die Mythologie recherchiert, von Ägypten bis Harry Potter. Es ist einfach ein schönes Bild für Städte. Es kommt auch besser an als "kämpfende Städte" oder "Weak Market Cities".
Was versteht man unter "Weak Market Cities"?
Power: Städte, die früher von einer bestimmten Industrie dominiert waren, die jetzt scheinbar verschwunden ist. Schiffswerften, Stahlwerke, Logistikzentren, Textilmanufakturen. Sie haben also ihre wesentliche Basis verloren.
Wie können diese Industriemetropolen zu selbsterneuernden Phönixstädten werden?
Power: Das kommt darauf an. Sheffield und Lille waren schon im 19. Jahrhundert industrialisiert, in italienischen Städten wie Turin zum Beispiel passierte das erst in den 1950er-Jahren. In Bilbao ist die Erneuerung am besten gelungen, weil die Stadt schon immer kleine Unternehmen hatte und dazu einen starken Finanzsektor. Städte, die eine solch vielfältige Wirtschaft haben, erholen sich schneller als die, die nur auf ein Pferd gesetzt haben.
Fällt das größeren Städten leichter?
Power: Man kann hier keine klare Grenze ziehen, aber im Großen und Ganzen tun sich Städte unter 100.000 Einwohnern schwerer als Großstädte. Am schwierigsten ist es bei diesen "hingeklotzten Orten", wie ich sie nenne, also Gegenden, in denen die Regierung beschlossen hat, zusätzliche Wohngebiete hinzustellen. Diese Orte erneuern sich schwer, weil sie kein Evolutionsbewusstsein haben und sich nirgendwo zugehörig fühlen.
Wird sich die Geschichte von Niedergang und Erneuerung in den heute stark industrialisierten Ländern wie China wiederholen?
Power: Das passiert jetzt schon. In China gibt es heute Städte, die genau das sind, was unsere Industriestädte vor 30 Jahren waren, zum Teil ist ihre Infrastruktur jetzt schon veraltet. Städte im Pearl River Delta leiden unter Umweltverschmutzung und problematischen Arbeitsverhältnissen. Manche Industrien wandern schon nach Thailand, Bangladesch oder Malaysia ab. Also: Ja, der Wandel ist dort nur eine Frage der Zeit. Man kann mit Ausbeutung von Ressourcen auf lange Sicht keine Industrie erhalten.
Sind Umweltfragen für die Städte heute wichtiger als früher?
Power: Wir waren vor kurzem im Ruhrgebiet, wo die alten Stahlwerke von den Chinesen auseinandergebaut und nach China abtransportiert wurden. Die Ruhr war 150 Jahre lang biologisch tot - und wenn die Chinesen uns das nachmachen, wird es ihnen ökologisch genauso ergehen. Das ergibt aber wirtschaftlich keinen Sinn.
Warum?
Power: Es gibt im Englischen die schöne Redensart "Mit dem Vorschlaghammer eine Nuss knacken". Das heißt, man benutzt ein viel zu schweres Werkzeug. Wir haben das in den Zeiten der industriellen Revolution genauso getan. Heute wissen wir es besser. Sheffield und Manchester sind heute Zentren des Advanced Manufacturing.
Was versteht man darunter?
Power: Das heißt, es wird immer noch Stahl hergestellt, aber er ist optimiert und hochtechnisiert, fast unzerstörbar! Man kann ihn präzise schneiden und braucht dadurch weniger Rohstoffe.
Haben Europas Städte also noch einen Vorsprung durch Technik?
Power: Ja. Viele unserer Städte haben sehr alte und einflussreiche Universitäten. Die haben einfach weiter Ingenieure produziert, auch als es keine Industrie mehr gab. Irgendwann hat man entdeckt, dass das ein Vorteil sein kann. Lille, Bilbao und Turin haben gesponserte Arbeitsstätten eingerichtet, um die klügsten Absolventen in der Stadt zu halten. Die Tradition hat sich also ungebrochen erhalten. Das Resultat sind Stadtverwaltungen und Universitäten, die mit der industriellen Vergangenheit verbunden sind und sie zukunftsfähig machen. So kam es, dass in Manchester das Supermaterial Graphen erfunden wurde.
Sind Europas Metropolen also geborene Phönixstädte, die sich selbst erneuern, oder wäre hier auch ein Schicksal möglich, wie es Detroit zurzeit erlebt?
Power: Dafür gäbe es hier gar keinen Platz! Ein Grund, warum Detroit so viele Einwohner verloren hat, ist, weil es drumherum so viel Raum gibt, in dem man sich ansiedeln kann. Und jedes Haus, das dort in den Suburbs gebaut wird, benötigt enorm viel Land, wenn man die Infrastruktur berücksichtigt! Deshalb gibt es in Großbritannien seit dem 19. Jahrhundert Grüngürtel, um die zusammenwachsenden Städte zu trennen. Wir sind eine dicht bevölkerte Insel und können uns keine Zersiedelung leisten. In Kontinentaleuropa ist das nicht viel anders.
Waren Städte und Wohnen schon immer Ihr Forschungsthema?
Power: Wenn man in Stadtvierteln mit niedrigem Einkommen wohnt, schreit einen die Armut geradezu an. In den 1960er-Jahren lebte ich in Chicago, und es war absolut furchtbar. Die Wohnung voller Küchenschaben, die Müllabfuhr streikte, vor dem Fenster sprangen die Ratten im Hof auf Bergen von Abfall herum.
Sie haben in Chicago auch mit Martin Luther King zusammengearbeitet.
Power: Ich studierte an der Universität von Wisconsin und bekam mit, wie schlimm es um die Slums und Ghettos in Chicago stand. Ich wollte nicht nach England zurückkehren, ohne diese Seite Amerikas zu verstehen. Das war 1966, auf dem Höhepunkt der Bürgerrechtsbewegung. Es gab Demonstrationen für besseren Wohnraum und Gleichberechtigung der Schwarzen. Martin Luther King begann seine Kampagne gegen Slums, als wir dort waren, also haben wir uns beteiligt. Die repressiven Kräfte und die Rassentrennung waren aber zu stark. Als ich nach Europa zurückkam, wollte ich verhindern, dass hier das Gleiche passiert.
In London forschen Sie über die Armut der Wohnbevölkerung. Wie gravierend sind dort die Probleme durch die enorm gestiegenen Wohnkosten im Stadtzentrum?
Power: Die Abwanderung an den Stadtrand ist nichts Neues. Im Osten Londons kostet das Wohnen auch nicht mehr als im nationalen Durchschnitt. Es geht eher um die Frage, wo die Leute leben wollen, und Familien mit Kindern ziehen eben gerne an den Stadtrand. Es gibt aber auch einen starken Trend in die andere Richtung, also den Zug zurück in die Stadt. Man sieht: Die Stadt hat auch hier die Kraft, sich zu erneuern. (DER STANDARD, Album, 7.9.2013)