Die Zeit der genialistischen Einzelkämpfer in der Architektur geht dem Ende zu. Das mit dem Turner Prize ausgezeichnete britische Team Assemble bringt frischen Wind in die Branche
Der rituelle Aufschrei hatte in diesem Jahr einen besonders schrillen Sound: Als im Dezember der wichtigste Preis der britischen Kunstwelt, der mit 25.000 Pfund dotierte Turner Prize, an das Architektenteam Assemble vergeben wurde, war die Kulturwelt der Insel in Aufruhr: Das Ende des Turner Prize, eine Bankrotterklärung, ein Affront! Was hatte Architektur denn mit Kunst zu tun? Selbst für die an Skandalen und aufgeregten "Ist das noch Kunst?"-Diskussionen nicht gerade arme Geschichte des Preises (von Damien Hirsts eingelegtem Hai über Tracey Emins zerwühltes Bett, kopulierende Sexpuppen und protestierende Eierwürfe bis zu den unvermeidlichen Wortmeldungen von Prince Charles) war das ein Novum.
Dabei ist die eine akademische, von reichlich Betriebseitelkeiten geprägte Frage, ob Architektur Kunst sei, der bei weitem uninteressanteste Aspekt an der Wahl der Jury. Stattdessen könnte man fragen: Warum gibt es diese Art Architektur gerade jetzt? Assemble ist ein junges, 15-köpfiges Kollektiv, bunt gemischt aus Architekten, Künstlern und Designern. Mit ihrem ersten Projekt Cineroleum verwandelten sie 2010 eine leerstehende Tankstelle mitten in London in ein temporäres Kino. Wie viele Assemble-Projekte wurde es vom Team selbst, ganz ohne Auftraggeber, entwickelt. Interdisziplinär, kollektiv, selbstbestimmt und schnell: eine Seltenheit in der Architektenwelt, die von überkompliziertem Normierungswesen, juristischen Minenfeldern und jahrelangem Kampf um Millionenprojekte geprägt ist. Ein Gegenmodell auch zum Image des Architekten als einzelnes Genie, das sich in Denkerpose ablichten lässt, während er seine "signature buildings" über demokratisch zweifelhafte Staaten ausstreut.
Ein Signal auch für die britische Architektur: Denn Assemble bekamen den Preis explizit für ihr Projekt Granby Four in Liverpool: Ein heruntergekommenes, zum Abriss bestimmtes Viertel, berüchtigt durch die Toxteth Riots im Jahr 1981, dessen letzte Bewohner sich standhaft weigerten, aufzugeben. Gemeinsam mit ihnen entwickelten Assemble eine Rettungsaktion für das Viertel. Zehn Häuser wurden gerettet, zwei weitere, von denen nur noch die Außenmauern übrig geblieben waren, wurden zu einem riesigen Wintergarten umgebaut.
Im dazugehörigen Granby Workshop, in dem die Bewohner Handwerksstücke anfertigen, die das Innere der ausgeweideten Häuser wieder ergänzen: vom Kaminsims zum gedrechselten Geländer. Der Erlös wird wieder ins Gesamtprojekt investiert: Architektur als soziales Gesamtkunstwerk. Bei den Menschen in Liverpool kam das hervorragend an: "Assemble waren die Ersten und Einzigen, die uns jemals zugehört haben", sagt eine der Bewohnerinnen.
"Unsere Arbeit umfasst viele Rollen: Wir sind Designer, Handwerker, Künstler und Organisatoren", erklärt das Team sein Selbstverständnis. "Uns interessiert, wie die Menschen den öffentlichen Raum in Besitz nehmen können und wie sie durch das Selbstmachen lernen, wie Dinge zusammengefügt sind. Unsere Umgebung ist formbar und veränderbar: Unsere Aufgabe ist es, kreative Möglichkeiten zu finden, wie die Menschen ihre Umgebung beeinflussen können", sagt Assemble-Mitglied Paloma Strelitz.
Im Projekt Folly for a Flyover bauten Assemble gemeinsam mit Freiwilligen aus bunten Ziegelsteinen ein temporäres Haus zwischen zwei Brücken einer Londoner Stadtautobahn: Wie ein einsames, aber tapferes Überbleibsel aus einem viktorianischen Kuriositätenkabinett reckt es seinen Spitzgiebel zwischen den Fahrbahnen empor, während es unter der Brücke Raum für Kino- und Theateraufführungen bietet.
All das kann man als sympathische, aber harmlose Weltverbesserungsbastelei sehen. Doch angesichts der dramatischen Entwicklung des Wohnungsmarkts in Großbritannien sind das mehr als nur kleine Interventionen. Während der öffentliche Raum immer mehr privatisiert wird, wird dieser Tage der Housing Bill der Cameron-Regierung vom Oberhaus geprüft: Mit der Begründung, die akute Wohnungskrise zu bewältigen, sollen dank dieses neuen Wohnbaugesetzes die sozialen Wohnbauten der Nachkriegszeit abgerissen, renoviert und verkauft und geförderte "starter homes" auf den Markt gebracht werden: Die Briten wollten eben kaufen, nicht mieten, heißt es bei den Tories. Kritiker wenden ein, dass diese "starter homes" nach wenigen Jahren auf dem freien Markt zu erwartbar horrenden Preisen weiterverkauft werden können. Selbst die Mittelklasse wird sich dann in London keine Wohnungen mehr leisten können, von den Ärmeren ganz zu schweigen.
Aktionen wie die von Assemble, die Bürger dabei unterstützen, sich den Wohnungsbestand und den öffentlichen Raum anzueignen, sind daher zweifellos auch politisch zu sehen. Noch deutlicher macht das ein anderes Kollektiv: Die Gruppe Architects for Social Housing formierte sich im Protest gegen die Pläne der Regierung, den sozialen Wohnbau zu eliminieren. Auf die Bemerkungen Camerons, die Wohnanlagen der 1960er-Jahre seien nichts weiter als sink estates, also trist und von Kriminalität geprägte Slums, reagierten sie diese Woche mit Bildern des tatsächlichen Zustands des vom Abriss bedrohten Central Hill Estate im Londoner Stadtteil Lambeth: Üppiges Grün, gepflegte Hauseingänge, spielende Kinder, eine lebendige Nachbarschaft.
Schnell reagieren, vor Ort sein, mit den Bewohnern arbeiten: Das gelingt im Kollektiv am effektivsten. Dieser Generation der Architekten steht das Machen näher als das Planen – denn das Machen ist oft dringend geboten. Wie das selbst gemeinsam mit Investoren erfolgreich funktionieren kann, zeigt das Team Planbude aus Hamburg. Als die vielgeliebten "Esso-Hochhäuser" mitten in St. Pauli zum Abriss freigegeben wurde, waren die streitbaren Reeperbahn-Bewohner in Sorge um ihren Kiez. Also eröffnete die norddeutsch-salopp benannte Gruppe aus Architekten, Stadtplanern, Künstlern und Stadtteilarbeitern ein Büro vor Ort, in dem sie über 2000 Ideen für die Neubebauung sammelten.
Gemeinsam mit Stadtverwaltung und Investoren wurde so ein Nutzungsmix gefunden, der dem Charakter des Viertels entspricht: geförderte Wohnungen, kleine Läden, Spielflächen, eine Kletterwand auf dem Dach. Den städtebaulichen Wettbewerb, der auf dieser Basis ausgeschrieben wurde, gewannen im September 2015 das niederländische Büro NL Architects und das Kölner Büro BeL.
Der Künstler Brian Eno erfand einst den Begriff des "Scenius" als Bezeichnung für ein innovatives Milieu, das von der Genialität des Kollektivs vorangetrieben wird. Der Scenius ist in der Architektur angekommen. Oder, in den Worten des Assemble-Mitglieds Anthony Engi Meacock: "Viele denken, Kultur dürfe nur von einer talentierten Elite produziert werden. Das glauben wir nicht. Die Tatsache, dass wir hier sind, ist ein Zeichen, dass etwas Neues passiert."