Seine Wohnbauten wurden als "Betonburgen" beschimpft, die Fachwelt diskreditierte ihn, doch die Bewohner fühlen sich seit Jahrzehnten wohl. Harry Glück ist einer der umstrittensten und faszinierenden Architektenfiguren Österreichs. Pünktlich zu dessen 90.Geburtstag erscheint nun ein Buch über den Erbauer von Alt-Erlaa.
Ein moderner, luxuriöser Riesenwohnblock mit 40 Stockwerken, weit draußen am Stadtrand, mit Swimming Pool und Supermarkt, der nach und nach zur Hölle wird, als sich seine Bewohner von der Außenwelt abschotten und in archaische Stammesrituale zurückfallen, bis hin zu Blutopfern im modernen Skulpturengarten auf der Dachterrasse: Diese Szenerie beschrieb der britische Autor J.G.Ballard in seinem 1975 erschienenen dystopisch-ironischen Roman High Rise (dt.: Hochhaus), zu einer Zeit also, als die Ära der Megawohnblocks weltweit gerade ihren Zenit überschritten hatte. Die einst zukunftsfrohe Moderne galt nun als stadtzerstörend und inhuman.
Als Ballards Roman erschien, war der größte Wiener Superwohnblock, Einkaufszentrum und Schwimmbäder inklusive, gerade erst am Entstehen. Der Blutrituale war der Wohnpark Alt-Erlaa zwar unverdächtig, aber der Vorwurf des "unmenschlichen Maßstabs" in der "Betonburg" ist auch heute, 30 Jahre nach Fertigstellung des letzten Bauteils, noch nicht ganz verschwunden. Und das, obwohl alle Umfragen unter den Bewohnern das Gegenteil besagen: Die soziale Mischung funktioniert, die rund 9000 Bewohner von Alt-Erlaa lieben ihr Zuhause, von den selbstbepflanzten Balkonkästen über die Gemeinschaftsräume mit Kino, Modellbauclub und Pensionistentreff bis zu den Schwimmbädern auf dem Dach. Alt-Erlaa will und will einfach kein Vorstadtdystopie werden.
Auch der Architekt des Wohnparks hat bis heute mit Vorurteilen zu kämpfen. Harry Glück, der diesen Februar seinen 90.Geburtstag feiert und noch immer aktiv ist, galt lange als gut verdienender Technokrat, und das vor allem unter seinen Kollegen. Fragt man ihn heute danach, spürt man immer noch den Trotz und verletzten Stolz, selbst wenn jüngere Architekten, die die ideologischen Grabenkämpfe der 70er und 80er Jahre nicht miterlebt haben, heute vereinzelt wieder das Pro-Glück-Fähnchen schwingen.
Was macht Harry Glücks Wohnbauten - rund 18.000 Wohnungen hat er in seiner Karriere geplant, eine atemberaubende Zahl - bei Bewohnern so beliebt und in der Fachwelt so kontrovers? Antworten darauf gibt das soeben erschienene Buch "Harry Glück: Wohnbauten", herausgegeben vom Raumplaner, Filmemacher und Publizist Reinhard Seiß. Seiß, mit seiner unbequemen Analyse "Wer baut Wien?" als streitbarer Geist bekannt geworden, hatte sich schon 2013 in seinem Dokumentarfilm "Häuser für Menschen - Humaner Wohnbau in Österreich" den Bewohnern von Alt-Erlaa gewidmet.
Das Buch mit seinem breiten Spektrum an Gastbeiträgen, Fachgesprächen und einem Interview mit Glück selbst, ergänzt mit prachtvollen Fotos von Hertha Hurnaus, liefert nun die lange fehlende Werkschau der faszinierenden Persönlichkeit Harry Glück. Dabei ist es weniger eine Architektenmonographie alsein Lesebuch, das anhand der Figur Glück Themen wie den österreichischen und speziell Wiener Wohnbau und das Selbstverständnis von Architekten zwischen Baukünstler und Pragmatikern beleuchtet. Gerade hier wird die Bruchlinie deutlich, die Glück von seinen Berufskollegen trennte.
"Harry Glück war als Absolvent der Technischen Universität nicht Teil der Avantgarde der 60er und frühen 70er Jahre, die von der Angewandten und der Akademie stammte", sagt Autor Reinhard Seiß. "Diese Architekten brachen mit dem industriellen Wohnbau und setzten auf künstlerische Konzepte oder die Postmoderne. Glück dagegen benutzte den industriellen Wohnbau, um etwas deutliches Besseres daraus zu machen – was ihn in Verruf brachte. Und dann maßte gerade er sich an, die Avantgarde über menschengerechten Wohnbau zu belehren."
Glücks Erfolg, das wird im Buch deutlich, lag nicht nur an der guten Auftragslage im Naheverhältnis zur Stadt Wien und Bauträgern wie der GESIBA, sondern darin, dass er beim Planen nicht wie ein Künstler, sondern wie ein rational kalkulierender Bauträger dachte. Seine Bauten waren nicht nur die mit der höchsten Wohnzufriedenheit, sie rechneten sich auch besser als andere. Dabei lag diesem technokratischen Selbstverständnis durchaus ein sozialreformerisch-utopischer Gedanke zugrunde: Ein Maximum an Grün und Freiraum für alle, und das in der Stadt. Die Balkonkästen von Alt-Erlaa als Ersatz fürs teure Wochenendhaus auf dem Land, der Swimming-Pool auf dem Dach als Reklamation eines Luxusguts für die Arbeiter- und Mittelschicht. Auch dies hat ihm damals von rechts und von links Kritik eingebracht.
Diese war im Nachhinein ebenso ungerechtfertigt wie die Tatsache, dass Glücks Bauten gerne die Verfehlungen anderer "Betonburgen" vorgeworfen wurden, die ihn kopierten, ohne seine Qualitäten zu übernehmen - etwa mit lichtlosen Mittelgängen, aber ohne die Gemeinschaftsräume, die diese bei Harry Glück mit Leben erfüllen.
"Es ging mir bei der Publikation aber nicht in erster Linie darum, den Ruf eines Geächteten zu rehabilitieren", relativiert Seiß. "Ich beschäftige mich seit etwa zehn Jahren mit Harry Glück, und bin immer wieder erstaunt über die hohe Wohnqualität seiner Bauten, vor allem auch im Vergleich zur zeitgenössischen Architektur. Mich fasziniert sein ganzheitlicher Ansatz, den bis heute nur wenige verfolgen."
Das Buch habe ihm, sagt Seiß, im Vorfeld erstaunlicherweise mehr Skepsis eingebracht hat als seine provokative Streitschrift "Wer baut Wien?". Offensichtlich ist Harry Glücks Ruf als Geächteter also noch lange nicht rehabilitiert. Das Buch dürfte daher genügend neuen Diskussionstoff und einige Überraschungen liefern: In der Liste der kompletten Glück-Bauten findet sich erstaunlich vieles, das man aus dem Wiener Alltag kennt. Nicht alles davon sind Glanztaten (etwa das Hotel Marriott am Ring mit seiner Postmoderne-aus-dem-Baukasten-Fassade), vieles ist solide und unauffällig, die Wohnbauten aber von durchgehender Qualität. Wenige Nachkriegsarchitekten dürften Wien so geprägt haben wie Harry Glück, und das ganz unauffällig. Allein das lohnt schon die Wiederentdeckung.