Harry Glück: "Der Großteil der Menschen wohnt nicht, sondern lebt in Unterkünften!"

Der Architekt Harry Glück hat in Wien Tausende von Wohnungen gebaut. Mit dem Falter sprach der 88jährige über sein Lebenswerk und verriet, was Alt-Erlaa mit Hölderlin zu tun hat.

Gerade mal 33 Jahre ist er alt, der verspiegelte Bau an der Rathausstraße, und schon ist sein Ende so gut wie besiegelt: Das Rechenzentrum der Stadt Wien zog letztes Jahr an den Stadtrand, der Altbau steht leer. Zur Zeit läuft ein ergebnisoffener Wettbewerb für den Standort, dessen Ergebnisse im Herbst präsentiert werden. Beim Bundesdenkmalamt sieht man keine Veranlassung, den Bau unter Schutz zu stellen, denn der maßgebliche Beitrag seines Architekten zur Baugeschichte, so Friedrich Dahm, Landeskonservator für Wien, auf Anfrage des Falter, liege ohnehin im Wohnbau.

Der Architekt ist Harry Glück und sieht das ähnlich: Er blickt auf ein enormes Oeuvre an Wohnbauten zurück, darunter einer der bekanntesten in Wien überhaupt: Der anfangs umstrittene und seither als geglücktes Beispiel großer Stadtrand-Wohnblocks geltende Wohnpark Alt-Erlaa. Auch heute ist der mittlerweile 88jährige Architekt noch aktiv. Ich traf ihn (und Bullterrier Paula) zum Gespräch in seinem Josefstädter Büro mit Blick ins Grüne.

 

FALTER: Das von Ihnen entworfene Rechenzentrum der Stadt Wien steht inzwischen leer, sein Überleben ist ungewiss. Sehen Sie Potenzial für eine neue Nutzung?

Harry Glück: Das Rechenzentrum wurde gebaut für Maschinen, die es fünf Jahre später nicht mehr gegeben hat. Es gab ein sehr genaues Layout, auch in konstruktiver Hinsicht, bedingt durch Gewicht, Wärmeentwicklung der damaligen Rechenmaschinen. Außerdem viele sehr niedrige Räume, und im Inneren eine freie Spannweite von 14 Metern. Das waren unbedingte Anforderungen, die heute niemand mehr braucht.

Ist jemand an Sie herangetreten betreffend einer Umplanung?

Nein. Ich habe den Standort in der Nähe des Rathauses für richtig gehalten, damit räumliche Nähe der Fragenden zu den Antwortenden besteht. Vor kurzem habe ich allerdings auch gelesen, dass die Lufthansa ihre Gehaltsverrechnung in Indien machen lässt.

Glück-Bauten gibt es viele in Wien. Allerdings keine weiteren Rechenzentren, sondern vor allem Wohnbauten. Wissen Sie auswendig, wie viele Wohnungen Sie insgesamt gebaut haben?

Alleine und in Arbeitsgemeinschaften, bei denen wir maßgeblich beteiligt waren: Ungefähr 18.000.

Sie haben die ersten Terrassenwohnhäuser in Wien gebaut. War es damals schwierig, diese neue Typologie durchzusetzen?

Wir mussten zuerst nachweisen, dass es wirtschaftlich möglich ist. Wäre es einmal schiefgegangen, wäre der erste Bau unser letzter gewesen. Alt-Erlaa ist möglicherweise nur zustande gekommen, weil es die Fantasie überstiegen hat. Man hat sich nur darauf gefreut, wie wir auf die Nase fallen.

Dabei hat sich gerade bei Alt-Erlaa, Ihrem größten und bekanntesten Wohnbau, die Rezeption über die Jahre sehr zum Positiven gewandelt. Oder?

Es gab viel polemische Gegenpropaganda, zum Teil politisch motiviert. Aus der Architekturszene war es mehr oder weniger Neid. Insofern sinnlos, da wir zwar ein stattliches Honorar bekamen, aber das musste man zuerst einmal durch drei teilen, und dann nochmal durch 18. Wir haben 18 Jahre daran gearbeitet! Da bleibt nicht sehr viel übrig.

Wiegt das Glück der Bewohner die Kritik der Kollegen auf, oder hätten Sie sich mehr Anerkennung gewünscht?

Es ging mir um den mir oft in den Mund gelegten, wenn auch meiner Erinnerung nach nie so formulierten Slogan "Wohnen wie die Reichen, aber für alle". Die Schicht derjenigen, die so wohnen können, wie sie wollen, ist ziemlich dünn. Es sind die durch Besitz oder Macht, Privilegierten. Der Großteil der Menschen wohnt nicht, sondern lebt in Unterkünften. Diese Distanz zu verringern war und ist ein Anliegen.

Wo liegt die Grenze zwischen Unterkunft und Wohnung?

Wir haben, glaube ich, das heute technologisch und wirtschaftlich Erreichbare gemacht. Was uns bevorsteht, ist der Wohnbau der großen Zahl. Denn die Probleme, die wir in Mitteleuropa zu lösen haben, sind unbedeutend gegenüber denen, die in der Zweiten und Dritten Welt bevorstehen. Mit den Konzepten, mit denen das bis heute überall auf der Welt betrieben wird, wird das nicht gehen.

Warum ist das so?

Der Architekturbegriff hat im Jahr 1817 einen Knick bekommen: mit der Gründung der École des Beaux Arts in Paris. Damals wurde der Kunstarchitekt erfunden, als sich selbstverwirklichender Künstler. Meiner Überzeugung nach war die Entwicklung der Architektur mit der Weißenhofsiedlung 1927 beendet. Seither hat sich nichts mehr getan. Ich kenne ästhetisch nichts, das über Mies van der Rohe hinausgegangen wäre. Das Seagram Building, der Barcelona Pavillon oder das Dominion Center in Toronto sind bis Heute von nichts übertroffen. Auch in seinen Wohnungen am Lakeshore Drive hat er alles gemacht, was heute möglich ist.

Auch, was das Wohnen betrifft?

Beim Wohnen geht es darum, dass man die Menschen so wohnen lässt, wie sie es auch im Urlaub suchen und wünschen. Die durch Besitz oder Macht Privilegierten leben und wohnen auf der ganzen Welt ident, bloß mit Klima bedingten Unterschieden: Im Naturkontakt, mit dem psychischem Appell der Natur, in der Nähe von Wasser, mit der Möglichkeit zu sozialen Kontakten. Praktisch einheitlich! Grünblick kostet mehr Miete. Wollen Sie vor Ihrem Fenster lieber Bäume oder eine Feuermauer?

Das Tucholsky-Zitat "Eine Villa im Grünen mit großer Terrasse, vorn die Ostsee, hinten die Friedrichstraße" wird ja immer verwendet mit dem Unterton, man könne eben nicht beides haben, Stadt und Natur. Man soll aber laut Ihnen doch beides haben können?

Ich konnte in Alt-Erlaa und anderen unserer Bauten relativ viel davon für alle bieten. Es ist möglich. Wir haben über 50 Schwimmbäder, 20-33 Meter lang, auf den Dächern von Wohnbauten für jeweils rund 200 Wohnungen, realisiert. Heute beginnt das beinahe zum Standard zu werden, bloß sind die Becken meist zu klein. Die Gemeinschaft kann es sich leisten. Aber ich wurde damals angegriffen dafür.

Wie lautete damals die Kritik?

Es war grotesk: von rechts, weil ich den Luxus an die Proleten verschwende, von links, weil ich es ihnen zu vergnüglich mache und sie dadurch den revolutionären Schwung verlieren würden.

Wie wichtig waren die Schwimmbäder beim Entwurf für Alt-Erlaa? Woher kam die Idee?

Das ist auch von städtebaulicher Bedeutung. Wir haben den Nachweis, dass die Bewohner der Häuser mit Schwimmbad wesentlich weniger Freizeitverkehr haben. Da bleiben die Autos stehen. Die Freizeitflucht wird verringert, die Kommunikation der Bewohner initiiert. Wenn jemand in Alt-Erlaa wohnt, kann ich mir vorstellen, dass der immanente Druck nach materiellem Aufstieg nicht so groß ist. Er hat einen größeren Swimming Pool als sein Generaldirektor. Die größere Zahl erreicht die höhere Stufe. Das stellt für die Lebenszufriedenheit einen wesentlichen Faktor dar. Weil man nicht ununterbrochen daran denken muss, wie man zu einem Zweitwohnsitz kommt.

Weil man alles hat, was man zum Glück braucht.

Es trägt ja auch zur Gesundheit bei.

Wenn die Leute sich vor allem in Alt-Erlaa aufhalten, wenn es keine Straßen gibt, auf denen man Fremden begegnet, und ich alle sozialen Kontakte in ein und derselben Wohnanlage habe -  ist das nicht unurban?

Wir verwechseln den Begriff Urbanität zu sehr mit City-Betriebsamkeit. Unser Ziel ist eine Stufe höher als Tucholsky. Wir wollen eine verkehrsfreie, durchgrünte Stadtlandschaft wie sie Hölderlin vor bald 200 Jahren beschrieben hat: In Brot und Wein, Erste Strophe

Rings um ruhet die Stadt; still wird die erleuchtete Gasse,
Und, mit Fackeln geschmückt, rauschen die Wagen hinweg.
Satt gehn heim von Freuden des Tags zu ruhen die Menschen,
Und Gewinn und Verlust wäget ein sinniges Haupt
Wohlzufrieden zu Haus; leer steht von Trauben und Blumen,
Und von Werken der Hand ruht der geschäftige Markt.
Aber das Saitenspiel tönt fern aus Gärten; vielleicht, daß
Dort ein Liebendes spielt oder ein einsamer Mann
Ferner Freunde gedenkt und der Jugendzeit; und die Brunnen,
Immerquillend und frisch rauschen an duftendem Beet.
Still in dämmriger Luft ertönen geläutete Glocken,
Und der Stunden gedenk rufet ein Wächter die Zahl.
Jetzt auch kommet ein Wehn und regt die Gipfel des Hains auf,
Sieh! und das Schattenbild unserer Erde, der Mond
Kommet geheim nun auch; die Schwärmerische, die Nacht kommt,
Voll mit Sternen und wohl wenig bekümmert um uns,
Glänzt die Erstaunende dort, die Fremdlingin unter den Menschen
Über Gebirgeshöhn traurig und prächtig herauf.

Das ist nicht nur poetisches Geklingel, sondern Leben im Gleichgewicht. Sie müssen sich das natürlich von Oskar Werner gesprochen vorstellen.

War bei Alt-Erlaa Ihr Grundgedanke, dass dieses Wohnkonzept maßgeschneidert an diesem speziellen Ort funktioniert, oder war der Gedanke, dass eine ganze Stadt so funktionieren könnte?

Alt-Erlaa ist ein Modell des Neubaus am Stadtrand. Aber wesentliche Teile des Konzepts sind auch innerstädtisch in bereits dicht bebauten Stadtquartieren möglich.

In seinem "Plan Voisin" schlug Le Corbusier 1925 vor, das alte Paris durch einen Park mit einem Raster aus Hochhäusern zu ersetzen. Ist Alt-Erlaa im Vergleich zu Wohnvierteln wie der Seestadt Aspern oder dem Kabelwerk Meidling ähnlich radikal gegensätzlich?

Le Corbusier hat diese Gedanken vorgedacht, er war vielleicht etwas zu paternalistisch in der Unterschätzung der Komplexität des Lebensanspruchs auch der unteren Einkommensschichten. Der Wiener Wohnbau der Ersten Republik war großzügiger und humaner.

Sie sind dieses Jahr 88 geworden. Arbeiten Sie noch jeden Tag im Büro?

Nein, aber ich arbeite noch ganz gerne. Der Kopf funktioniert noch, glaube ich. Vielleicht sogar besser als früher. Learning by doing. Natürlich bedauere ich, dass ich das Angebot, das mir die Ski-Schule am Arlberg zu meinem 75er gemacht hat, nicht mehr ausnützen kann, nämlich um 150 ÖS eine Schneemannkarte für alle Lifte, am ganzen Arlberg, für den ganzen Winter.

Wie sehen Sie die Zukunft des Wiener Wohnbaus?

Nach dem Zweiten Weltkrieg übte der Fertigteilbau ungeheure Faszination auf die Politiker aus. Stadtplanung wurde bestimmt von den Gleisbahnen der Montagekräne – nicht nur in Wien, sondern in ganz Europa. Besser wäre gewesen, beim multifunktionalen Wohnbau des Roten Wiens der Zweiten Republik anzuknüpfen. Dessen alle Bereiche des menschlichen Lebens umfassende Vielfalt, noch nicht wieder erreicht ist - und auch das gilt für ganz Europa!

Das bezieht sich nicht nur auf Wien, sondern alles was mir auch international bekannt ist. Wenn die Chinesen sich von an sich kompetenten Architekten wie Gerkan eine Stadt für 300.000 Wohneinheiten bauen lassen, nach dem zweieinhalbtausend Jahre alten Raster des Kollegen Hippodamus und die Wiener Seestadt nach dem gleichen Schema gebaut wird, so sehe ich noch keinen Anlass sich zurückzulehnen. In Alt-Erlaa haben wir es wenigstens versucht. 10.000 Menschen wohnen verkehrsfrei, durchgrünt – zum großen Teil durch die Bewohner selbst – mit vielen kommunikativen Optionen. Und das Konzept funktioniert auch im kleineren Maßstab.

Erschienen in: 
Falter 32/2013; 7.8.2013