Grenfell Tower: Ein Einzelfall? Kein Einzelfall

Die Ursachen für die Brandkatastrophe in London werden noch untersucht. Die Versäumnisse sind jetzt schon frappant.

Am 16. Mai 1968 zündete Ivy Hodge den Gasherd in ihrer Küche im Londoner Hochhaus Ronan Point an, das erst zwei Monate zuvor fertiggestellt worden war. Sekunden später war eine komplette Seite des 22-stöckigen Plattenbaus wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen, vier Menschen starben. Von diesem Zeitpunkt an galten Wohnhochhäuser in Großbritannien als Fehlentwicklung, Ronan Point wurde zum Synonym für die Stigmatisierung des sozialen Wohnbaus.

Dabei war es die kaum zu fassende Inkompetenz in der Bauausführung, die zur Katastrophe geführt hatte. Einige Hochhäuser wurden in den 1970er-Jahren dennoch realisiert, darunter der 1974 eröffnete Grenfell Tower, in dem es vorige Woche zur albtraumhaften Brandkatastrophe mit mindestens 79 Toten kam. Die zu Recht wütenden Proteste legen nahe, dass Grenfell Tower ebenso wie Ronan Point zum Fanal eines Gesinnungswandels wird. Welcher das sein wird, ist noch unklar, denn zu viele Fehlentwicklungen bündeln sich in diesem Desaster: die Profitmaximierung des Wohnbaus, das Outsourcing von Kontrollen, die Vertreibung Benachteiligter aus der Stadt, völlig überforderte Behörden, die Einschüchterung von Bewohnern, die vor der Gefahr gewarnt hatten.

Konservative Kommentatoren forderten, man sollte einfach nicht mehr in Hochhäusern wohnen. Ein Ablenkungsmanöver, das nicht neu ist und in der Wiederholung nicht wahrer wird. Zielführender ist die Frage, ob die Brandschutzvorschriften unzureichend waren oder nur nicht eingehalten wurden. Warum eine nichtbrennbare Fassadenverkleidung beauftragt, aber nicht montiert wurde, wird zurzeit untersucht. Bis zu 600 Hochhausbauten im Vereinigten Königreich könnten mit dem gleichen Material gedämmt worden sein, gab Downing Street am Donnerstag bekannt. Kein Einzelfall also.

Ist nun der Mensch schuld oder das Material? Oder beides? Seit Jahren wird intensiv über den "Dämmwahn" diskutiert, nicht nur wegen der Entflammbarkeit des Materials, sondern auch wegen der ungelösten Frage, wie man die toxischen Stoffe nach der nächsten Sanierung entsorgen soll. An Energie soll gespart werden, doch was, wenn auch an Sicherheit gespart wird? Was ist uns mehr wert? Nach der Katastrophe wurde in Kontinentaleuropa eilig betont, so etwas könne hier nicht passieren, und auch britische Kritiker verwiesen auf die strengen Normen in Deutschland oder auch den USA. Österreich ist bekannt für seine strengen Vorschriften, ebenso wie in Deutschland sind hier für Hochhäuser nur nichtbrennbare Stoffe zugelassen. Das heißt: Mineralwolle ja, aufgeschäumte Erdölprodukte nein. Die seit 2015 für Häuser ab 22 Meter geltende OIB-Richtlinie 2.3 schreibt nichtbrennbare Materialien für Außenfassaden und Gänge im Inneren vor.

Beispiel Großfeldsiedlung Beispiel Großfeldsiedlung, Wien, 21. Bezirk: In derselben Ära errichtet wie der Grenfell Tower, wurde auch sie von 2013 bis 2016 saniert. Darunter zahlreiche Bauteile über 22 Meter. "Brandschutz und Sicherheit sind bei solchen Sanierungen immer ein wichtiges Thema", sagt Markus Leitgeb von Wiener Wohnen. Beim Hochhaus in der Dopschstraße mit 472 Wohnungen wurde die Fassade mit nicht brennbarer Mineralwolle gedämmt. "Österreich ist diesbezüglich als ziemlich sicher anzusehen", weiß auch der Brandschutzplaner Alexander Kunz, unter anderem für das Brandschutzkonzept des in Bau befindlichen Holzhochhauses HoHo in der Seestadt Aspern verantwortlich. "Fassadenmaterialien benötigen entweder eine Systemzulassung oder einen Test am 1:1-Fassadenmodell. Auch die Kontrollmechanismen hierzulande sind sehr solide, und die Wärmedämmsysteme haben sich weiterentwickelt. Frühere Produkte waren gefährlicher, auch wurden damals teilweise noch keine Brandriegel in den Fassaden installiert."

Irmgard Eder, Leiterin der Kompetenzstelle Brandschutz bei der Wiener Baupolizei (MA 37), verweist auf Anfrage des STANDARD auf die unmissverständlichen geltenden Normen. "In Österreich gibt es relativ strenge Vorschriften für die Anwendung von Wärmedämmverbundsystemen (WDVS), die in der OIB-Richtlinie Brandschutz festgehalten sind." Doch was ist nun mit den immer wieder im Fernsehen gezeigten lodernden Styroporfassaden? "Bei diesen 'spektakulären' Fällen handelt es sich im Wesentlichen um noch nicht fertiggestellte WDVS-Systeme, bei denen der Putz als wesentliche brandschutztechnische Maßnahme noch nicht aufgebracht war", relativiert Eder.

Nicht alle lassen sich angesichts der Bilder aus London von solchen Argumenten besänftigen. In Deutschland forderte Kai Warnecke, Präsident des Hauseigentümerverbandes Haus & Grund, den Einsatz von Polystyrol ab sofort komplett zu unterbinden und bereits montierte Polystyroldämmungen auf Kosten der Industrie zu entfernen. Kein Wunder, dass sich die Dämmstoffproduzenten nach Kräften bemühen, solche Ängste zu entkräften. "Kein Dämmstoff ist per se gut oder schlecht! Das Gesamtpaket entscheidet", betont Clemens Hecht, Sprecher der Qualitätsgruppe Wärmedämmsysteme. "Wichtig ist, dass die Normen eingehalten, die Produkte regelmäßig geprüft und durch geschultes Personal verarbeitet werden und dass die Ausführung kontrolliert wird."

Nicht wenige Architekten und Bauträger haben in den letzten Jahren den "Normenwahn" kritisiert. Vorschriften und ihre Auslegung durch Beamte widersprechen einander oder ändern sich so schnell, dass manch ein bewilligtes Gebäude schon während der Bauphase als unzulässig gilt. Mit entsprechendem Kostenaufwand. Irmgard Eder: "Aus meiner fast 30-jährigen Erfahrung beim Magistrat der Stadt Wien zeigt sich, dass sich Bauträger und Architekten möglichst wenig Vorschriften wünschen. Sobald es jedoch um Rechtssicherheit bei einem Projekt geht, werden konkrete Regelungen bei der Behörde und deren Sachverständigen nachgefragt."

Dürfen sich Österreichs Hochhausbewohner also sicher fühlen? Einerseits ist man hier von Zuständen wie in Großbritannien deutlich entfernt. Andererseits sind Normen nur sicher, wenn sie eingehalten und kontrolliert werden. Wenn Grenfell etwas signalisiert, dann das: Wenn Wohnen zum Spekulationsobjekt des freien Marktes wird, dann verliert das Wohlergehen und Überleben mancher Bewohner an Priorität. Die Frage, ob man Häuser, egal wie hoch sie sind, in Plastik einhüllen muss, soll und wird noch weiter für Diskussion sorgen.

 

Erschienen in: 
Der Standard, 24./25.6.2017