Sechs Monate vor der Eröffnung sind fast alle Olympia-Bauten in London fertig. Statt chinesischen Feuerwerks herrscht britischer Pragmatismus.
Als im August 2008 die Olympischen Spiele in Peking eröffnet wurden, staunte die Welt über das Vogelnest aus Stahl, das die Schweizer Stararchitekten Herzog & de Meuron als einprägsame Ikone an den staubigen Rand der chinesischen Hauptstadt gesetzt hatten. Die Gastgeber waren stolz auf den prunkvollen Aufwand: 42.000 Tonnen Stahl für 14 Tage Weltöffentlichkeit. Was danach damit anzufangen war, interessierte vorerst niemanden. Einen Monat später rutschte die Welt in die Finanzkrise und sah verschwendungsfreudige Riesenevents von nun an mit anderen Augen.
Nächste Station: London, wo die Spiele in genau sechs Monaten am 27. Juli eröffnet werden. Die britische Hauptstadt hatte, wie in weiser Krisen-Vorausahnung, bereits 2005 ihre Bewerbung mit dem Aushängeschild der Sparsamkeit versehen. Schließlich war man ein gebranntes Kind, was die Erfahrung mit "White Elephants" angeht, überdimensionierten Prestigebauten, die als finanzielle Altlasten in der Stadt herumstehen. Das PR- und Finanz-Desaster des Millennium Dome war noch in guter Erinnerung.
Stattdessen sollte die Spiele genutzt werden, um der Stadt Gutes zu tun: neue Infrastruktur wie die Crossrail-Bahnlinie, die Verwandlung des heruntergekommenen Lea Valley im Osten der Stadt zu einem riesigen Park. Anders als Peking muss London der Welt schließlich nichts mehr beweisen. Wichtiger als die zwei Wochen im Fokus der Weltöffentlichkeit war, was danach passiert.
Bestes Beispiel dafür: Das Olympiastadion, dessen letztes Stück Rasen bereits im April 2011 verlegt wurde. Hatte man für die Bewerbung beim IOC noch einen Entwurf der innovativen Foreign Office Architects verwendet, entschlossen sich die Londoner später, auf Nummer sicher zu gehen. Man beauftragte das Büro HOK/Populous, das bereits weltweit Sportbauten en masse errichtet hatte.
Schüssel mit Stricknadeln
Der Trick am Londoner Stadion: Stahl und Beton wurden auf ein Minimum reduziert, 20.000 der 80.000 Sitze lassen sich nach den Spielen wieder abbauen. Die Intentionen sind löblich. Das Resultat: ein zwar leichtes, aber kaum mehr als funktionelles Stahlgerüst, mehr Billy-Regal als Vogelnest.
Kein weißer Elefant - aber stattdessen eine graue Maus? Muss ein sparsames Stadion auch sparsam aussehen? Die Fachwelt war mehr als skeptisch. "Mit Stricknadeln umstellte Puddingschüssel" war noch das gnädigste Urteil. Auch der Londoner Architekt William Alsop, Professor an der TU Wien, kritisierte zu Baubeginn den freudlosen Arme-Leute-Look. Für Alsop, der vor kurzem in einem Vortrag mit dem trotzigen Titel In Austere Times it's Time to Dream der resignierten Finanzkrisenmentalität eine Abfuhr erteilt hatte, gilt das auch heute noch.
"Es ist kein schlechtes Stadion, aber es birgt keinen Ahaeffekt", sagt Alsop zum STANDARD. Rechtfertigt die Sparsamkeit nicht die Mittel? "Nein. Sehen Sie: Das neue Wembley Stadion von Norman Foster wurde noch in Zeiten des Booms gebaut, und es ist genauso langweilig. Das ist britisches Understatement: solide, aber ohne Seele. Außerdem können gute Architekten auch mit begrenztem Budget etwas Tolles leisten. Ein Olympiastadion baut man schließlich nur einmal, also sollte es die Menschen begeistern! Aber hier war das einzige Motiv die spätere Reduktion der Größe. Klar: Niemand will einen Weißen Elefanten, aber bei Olympischen Spielen ist das unvermeidlich."
Einen Kandidaten dafür gibt es inmitten all der Provisorien und Wiederabbaubarkeit: das Aquatic Center von Zaha Hadid. Dieses war schon stolzer Teil der Olympia-Bewerbung gewesen und ruft mit seinem geschwungenen Dach das gewohnte Hadid'sche Assoziationsfeuerwerk (Stachelrochen, Wal, Welle) hervor. Noch wird die elegante stützenfreie Schwimmhalle mit ihren Sprungtürmen aus Sichtbeton (Baukosten 325 Millionen Euro) von zwei dreieckigen Keilen plump in die Zange genommen wie eine Yacht im Trockendock, nach den Spielen werden die beiden Tribünen abgebaut und der Zwischenraum verglast.
Die Synthese aus der sparsamen Vernunft des Stadions und der großen Geste à la Hadid gelang beim Velodrom von Hopkins Architects, das sich die Materialersparnis und Eleganz des Fahrrads zum Vorbild nahm. Noch dazu mit nur einem Dreißigstel der Stahlmenge, die Zaha Hadid für das Dach ihrer Schwimmhalle benötigte. Die Außenhaut aus 5000 Quadratmeter rotem Zedernholz erinnert an den glatten Holzbelag der Bahn im Inneren, laut den Planern die schnellste der Welt. Schön und sparsam zugleich - dank britischer Ingenieurkunst also keine Unmöglichkeit.
Ob graue Maus oder weißer Elefant - Beim Organisationskomitee LOCOG ist man zufrieden: Die meisten Bauten wurden rechtzeitig oder sogar früher als geplant fertig und konnten die Baukosten halten (wenn auch das 2005 anvisierte Gesamtbudget von 2,4 Milliarden Pfund sich inzwischen fast vervierfacht hat). So kann man sich in den Monaten vor der Eröffnung schon um das Danach kümmern: Für die Nachnutzung der Bauten wurde eigens die Olympic Park Legacy Company gegründet, die Interessenten für das Stadion haben sich bereits beworben.
"Die Londoner sind stolz, weil die Organisatoren sehr gute Arbeit geleistet haben", gibt auch William Alsop zu. "Ich glaube, sie freuen sich vor allem auf die Zeit danach, auf eine Stadt, die durch die Spiele noch besser geworden ist als vorher."
(erschienen in: DER STANDARD, 28./29.1.2012)