Gotong Royong, oder: Architektur ist kein Geheimwissen

Architektur und Kunst entdecken das Kollektiv. Das ist nichts Neues. In Indonesien gibt es nachbarschaftliche Gruppenarbeit schon immer, sie heißt Gotong Royong

Ein Raunen ging im Februar dieses Jahres durch die Kunstwelt, als die Kuratoren der Documenta 15 vorgestellt wurden, die 2022 in Kassel stattfindet: das neunköpfige indonesische Kollektiv Ruangrupa. Zum ersten Mal wird keine Einzelperson für das Programm der Kunstinstitution verantwortlich sein. Dabei ist der Trend zur Gruppenarbeit nichts Neues: Schon als das Architektenteam Assemble 2015 den Turner Prize, die höchste Auszeichnung der britischen Kunstszene, verliehen bekam, merkte man, dass hier ein Paradigmenwechsel stattfand: weg vom vermeintlichen Einzelgenie, hin zum offenen Kollektiv.

Im Falle von Ruangrupa steckt noch weit mehr dahinter als ein Rütteln am Trendbarometer. Nicht nur, dass die Gruppe Teil eines größeren, weitverzweigten Kollektivs ist, das 2015 die gemeinsame Kulturplattform Gudang Sarinah Ekosistem einrichtete und 2018 den öffentlichen Lernraum Gudskul. Das gemeinsame Arbeiten ist Teil einer uralten indonesischen Tradition, die den klangvollen Namen Gotong Royong trägt.

Dieses Motto war Titel einer Veranstaltung, die vergangene Woche vom Verein Architektur ohne Grenzen Austria (AoGA) organisiert wurde. Farid Rakun vom Kollektiv Ruangrupa und Architekt Andrea Fitrianto, Mitbegründer von Architectes sans Frontières (ASF) Indonesien, stellten dieses Modell vor.

"Grundsätzlich geht es darum, einander zu helfen, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen", erklärt Farid Rakun. "Gotong Royong ist nicht politisch oder religiös motiviert, sondern ganz pragmatisch auf der Ebene der Nachbarschaft." Warum sich dieses kollaborative Handeln ausgerechnet in Indonesien verbreitet hat? "Wir haben früh realisiert, dass wir Problemlösungen nicht an andere delegieren können. Wir konnten uns nie auf den Staat verlassen, aber immer auf unsere Nachbarn."

"Die Gemeinschaft gibt uns Sicherheit", bekräftigt Andrea Fitrianto. "Den Begriff Gotong Royong kennt in Indonesien jedes Kind. Er kommt auch zum Einsatz, wenn es darum geht, Straßen zu reinigen, Brücken zu reparieren, kommunale Einrichtungen zu bauen."

Dies zeigte sich zum einen bei den zahlreichen Naturkatastrophen, die das Inselreich regelmäßig heimsuchen, wie die Erdbeben 2004 und 2006, und die oft unsicheren, von Zwangsumsiedlungen geprägten Wohnsituationen in den Städten. Im ersten Fall konnte und wollte man nicht mit dem Aufbau nach der Zerstörung warten, im zweiten hilft der Zusammenschluss, die Zerstörung zu verhindern. "Ein Beispiel: Eine Bekannte von mir ist fast 80 und musste schon sieben Zwangsumsiedlungen erleben", erzählt Fitrianto. "Für so jemanden haben Staat und Grundbesitz keine Bedeutung mehr. Wenn das Planungssystem nicht funktioniert, sind wir als Architekten auf der Seite der Bewohner".

Doch wie interagiert man als Künstler und Architekt mit den Bewohnern, ohne sich besserwisserisch aufzudrängen? "Nicht als Experten von außen", betont Farid Rakun. "Wir sind Teil von ihnen, und sie entscheiden. Man braucht jemanden vor Ort, der Teil der Gemeinschaft ist und weiß, was zu tun ist und warum."

Andrea Fitrianto und ASF Indonesien zum Beispiel taten das mit dem Pilot House, in dem ein neues Zuhause für eine Reihe von Familien, deren Häuser geräumt wurden, geschaffen wurde. Dies gelang mithilfe eines Workshops zum Konstruieren mit Bambus, etwas Fördergeld und einem Finanzierungsmodell, 2016 wurde das Pilot House eröffnet und gilt seither buchstäblich als Pilotprojekt.

Das bedeutet auch: Architektur ist kein Geheimwissen, das man angstvoll für sich behalten muss. Wissen ist nicht exklusiv, es gehört geteilt, damit jeder etwas davon hat. Dies beschränkt sich nicht nur auf Indonesien: Als Fitrianto in Philippinen eine Brücke konstruierte, konnte er auf die Idee der nachbarschaftlichen Zusammenarbeit zurückgreifen. "Gotong Royong gibt es in ganz Südostasien, nur unter verschiedenen Namen", so Fitrianto. Woran das liegt? "Wir sind alle Inselvölker. Das heißt, unsere Vorfahren waren auf Booten unterwegs, und auf einem Boot muss man zusammenhalten. Auf Inseln gilt im Prinzip dasselbe. Gotong Royong entstammt sozusagen einer Art Archipelbewusstsein." Um ein bekanntes Sprichwort abzuwandeln: Kein Mensch ist eine Insel, und die Inselvölker erst recht nicht.

Dieses Denken kommt nicht nur in Notsituationen zum Tragen, sondern formt für Rakun und Fitrianto die Basis der kreativen Arbeit. "Auch als Kollektiv Ruangrupa arbeiten wir nie allein", erklärt Rakun. "Wir sind Teil eines größeren Ökosystems. Es geht uns nicht um den Wettbewerb, wir sind entschieden unkompetitiv!" Die Erfahrung, sich nicht auf Hilfe von oben zu verlassen, resultiert auch in anderen Finanzierungsmodellen. "Im Westen schüttet der Staat Fördermittel aus, um die sich die Künstler dann balgen müssen. Das interessiert uns nicht. Wir brauchen keinen Staat. Wir bauen unser eigenes Ökosystem."

Klingt gut, aber wie sichert man das eigene Überleben? "Das ist gar kein Problem, wenn man nicht immer das Maximum haben will, sondern einfach genug. Der Rest wird geteilt." Langsam wird klar: Gotong Royong ist mehr als Notfallhilfe und kreative Spielwiese, sondern ein politisches Gesellschaftsmodell. Umso mehr in Zeiten der Klimakatastrophe, die einige Dogmen akut infrage stellt.

Was können wir von Indonesien lernen? "Gotong Royong kann man nicht exportieren", betont Rakun, "jeder muss eine eigene Methode finden. Was man von indigenen Kulturen lernen kann, ist die Erkenntnis, dass Wachstum immer die Ausbeutung von Ressourcen bedeutet, also Zerstörung. Wir müssen weniger kompetitiv und weniger anthropozentrisch werden. Jedem muss klar sein: Es gibt etwas, das wichtiger ist als ich selbst." Sich als Teil eines Ökosystems zu verstehen kann niemandem schaden. Erst recht in diesen präapokalyptischen Zeiten, in denen der Meeresspiegel steigt und wir alle zum Archipel werden.

 

Erschienen in: 
Der Standard, 6.11.2019