Geistwesen aus Stahlbeton

Mehr als Waldorfschulen: Das Rudolf-Steiner-Jahr zeigt, wie der umstrittene Gründer der Anthroposophie Kunst und Architektur beeinflusste

Der berühmte Besucher soll nachhaltig beeindruckt gewesen sein, als er im Jahr 1927 diesen Berg in der Schweiz bestiegen hatte. Eingebettet in die sanfte Hügellandschaft südlich von Basel, thronte vor ihm ein 90 Meter langes und 37 Meter hohes Gebilde aus purem Sichtbeton - kein rechter Winkel, dafür konkave und konvexe Wölbungen und Säulen wie Luftwurzeln, schwer und leicht zugleich.

Der Name des Besuchers war Le Corbusier, und das Bauwerk das Goetheanum in Dornach. Corbusier sollte ein Vierteljahrhundert später auf einem nicht weit entfernten Hügel eine ähnliche geschwungene Form aus Stahlbeton errichten - die Kirche Notre-Dame du Haut im französischen Ronchamp. Der Architekt des Goetheanums erlebte die Fertigstellung des Baus nicht mehr. Sein Name: Rudolf Steiner.

1861 im heutigen Kroatien geboren, destillierte Steiner nach der Jahrhundertwende Elemente von Christentum, Hinduismus, und Okkultismus zur alle Lebensbereiche umfassenden Weltanschauung der Anthroposophie.

Anlässlich seines 150. Geburtstags in diesem Jahr ist die allzeit umstrittene und verehrte Figur Steiner weltweit wieder ins Blickfeld gerückt. Klar, dass damit auch die heftigen Debatten um sein esoterisches Wirken um so intensiver geführt werden.

Sei es Steiners abrupter Wandel vom antireligiösen Nietzscheaner zum raunenden Mystiker, der mit einem sprunghaften Anstieg von gesellschaftlichem Ansehen und persönlicher Finanzlage verbunden war, sei es das Pro und Contra der von ihm begründeten Waldorfpädagogik oder Sinn und Unsinn von Eurythmie und biodynamischer Landwirtschaft - von den fragwürdigen, okkultistisch verbrämten Rassentheorien ganz zu schweigen.

Dass sich zu jeder kontroversen Äußerung ein Gegenbeispiel zitieren lässt - wie beispielsweise zu Steiners Ablehnung von Nationalismus und Antisemitismus - macht die Debatten nicht kürzer. Die sperrige Sprache seiner zahlreichen Bücher und mehr als 5000 Vorträge mit ihrem verdrehten Satzbau und wolkigen Substantiven tut ein Übriges, um den Zugang zu erschweren.

Rudolf Steiners Werk in Architektur und Kunst erscheint vor diesem Hintergrund geradezu beruhigend greifbar. Wie einflussreich es noch heute ist, zeigen die vom Vitra Design Museum konzipierten Ausstellungen Die Alchemie des Alltags und Rudolf Steiner und die Kunst der Gegenwart, die bereits in den Kunstmuseen Wolfsburg und Stuttgart gezeigt wurden.

Letztere, die Steiners Denkkosmos in der zeitgenössischen Kunst widerspiegelt, macht seit vorgestern, Donnerstag, in Prag Station. Die andere, die sich Architektur und Design widmet, eröffnet am kommenden Mittwoch im Wiener Mak.

"Wir freuen uns sehr, dass die Ausstellung nach Wien kommt. Schließlich hat Steiner von 1879 bis 1890 hier studiert und seinen künstlerischen Ansatz entwickelt", sagt Stephan Siber, der für die Anthroposophische Gesellschaft das Rudolf-Steiner-Jahr koordiniert.

In seinen Wiener Jahren geprägt von Otto Wagner und der Wiener Secession, waren es Elemente des Jugendstils, die Steiner aufgriff, als er 1913 den Bau des ersten Goetheanums begann. Die im selben Jahr begründete Anthroposophische Gesellschaft hatte enormen Zulauf, die Vorträge und Seminare des charismatischen Redners Steiner waren populär. Ein geeigneter Raum musste her. Als ihm das günstige Grundstück in Dornach angeboten wurde, ging er daran, den Ganzheitsanspruch seines Weltbildes in bauliche Form zu bringen.

Gebauter Ganzheitsanspruch

Zur Grundsteinlegung des enormen hölzernen Doppelkuppelbaus mit seinem stahlhelmartigen Schindeldach wurden Cherubim und Erzengel angerufen. "Friede und Harmonie wird sich ausgießen in die Herzen durch diese Formen. Gesetzgeber werden solche Bauten sein!", kündigte Steiner 1914 euphorisch an. Dazu sollte es nicht mehr kommen. Kurz vor der Fertigstellung brannte das erste Goetheanum in der Silvesternacht 1922 komplett nieder.

Steiner machte sich sofort an die Planung eines Neubaus, der kaum mehr als ein Jahr später begonnen wurde, und zwar in radikal anderer Gestalt. Ausgerechnet der damals neue und eher nicht esoterische Baustoff Stahlbeton sollte es sein. Die Steiner-Jünger, die den ersten Bau tatkräftig mitgestaltet und mit Spenden finanziert hatten, waren skeptisch. Dabei waren bereits für das erste Goetheanum Nebenbauten aus Beton entstanden, wie das expressionistische Heizhaus mit seinem verzierten Kamin, das deutlich an die Bauten von Antoni Gaudí erinnert.

"Alles, was in Betonbau bis jetzt geleistet worden ist, ist eigentlich keine Grundlage für das, was hier entstehen soll", kündigte Steiner an. Während Aspekte wie Geistwesen und Goetheforschung in physische Form überführt werden mussten, überlegte man gleichzeitig ganz nüchtern, welche neuen Techniken der Betonschalung zu entwickeln wären, um ein solch organisches Bauwerk in feste Form zu gießen.

Steiners "Wissenschaft" mag großteils auf der nicht nachprüfbaren Behauptung einer höheren Wahrnehmung fußen, doch der Anspruch, ein Gesamtkunstwerk zu schaffen, war durchaus zeitgemäß. Auch am Bauhaus in Weimar wurden zeitgleich Architektur, Farbenlehre und Tanz praktiziert.

Steiner starb 1925; im selben Jahr zog das Bauhaus nach Dessau um und wandte sich der industriellen Arbeitsteilung zu. Die Zeit der Gesamtkunstwerke war vorbei. In Dornach baute man posthum am Goetheanum weiter und stritt sich, ob das eine oder andere Detail im Tonmodell des Meisters zufällige Delle oder intendierter Geniestreich sei.

Auch danach bauten die Anthroposophen weltweit unter braver Vermeidung des rechten Winkels meist im Stil des Meisters weiter. Zwar glitt man nicht in Hundertwasser'sche Schlumpfigkeit ab, doch bisweilen blieb vom Gesamtkunstwerk wenig mehr als ein angeschrägtes Fenster.

"Viele bauen noch heute nach dem Vorbild des Goetheanums. Aber eigentlich war Kunst für Steiner immer Gegenwartskunst", sagt auch Silber.

Ein monumentales Modell des Goetheanums zeigt auch die Ausstellung im Mak. Neben Exponaten von anthroposophiebegeisterten Künstlern wie Joseph Beuys, dessen Tafelbilder sich explizit auf Steiner bezogen, werden hier auch die Einflüsse auf Architekten wie Hans Scharoun und Alvar Aalto deutlich.

Steiners Werk werde eben auch als "Steinbruch" benutzt, aus dem sich jeder bedienen könne, wie die Kuratoren im Ausstellungskatalog schreiben. Le Corbusier ist hier nur das bekannteste Beispiel. Ob dieser Steiner-Steinbruch nun Gesamtkunstwerk oder esoterisches Sammelsurium ist, darüber wird noch lange nach dem Steiner-Jahr debattiert werden. 

(erschienen in: DER STANDARD, 18./19.6.2011)