Heimlich hat sich das flämische Belgien zu einer der spannendsten Architekturregionen Europas entwickelt und dabei den großen Bruder Niederlande überholt. Eine Ausstellung und eine Preisverleihung würdigen jetzt die speziell belgische Mischung aus Pragmatik, Handwerk und Surrealismus.
Wer jemals die Grenze zwischen den Niederlafnden und Belgien überquert hat, weiß, dass diese kein unsichtbarer und fließender Übergang ist, sondern einer, der den Betrachter sofort der Illusion einer Benelux-Homogenität beraubt. Das Land nördlich der Grenze gibt sich ordentlich durchgeplant, jeder Kreisverkehr scheint Teil eines gesamtniederländischen Kreisverkehrkonzepts zu sein, alles strahlt Gemeinsamkeit aus, während beim südlichen Nachbarn sofort alles in schrulligen Individualismus zu zerfallen scheint.
Keine Frage: Belgien ist seltsam. Man muss gar nicht die beliebte Website "Ugly Belgian Houses" bemühen, um sich über die rätselhafte Vorliebe für nikotingelbe Klinkerfassaden und das surreale Nebeneinander des Unzusammenhängenden und Inkongruenten zu wundern. Dass ein Land mit solch verinseltem Eigensinn monatelang ohne Regierung auskommt, verblüfft einen dann schon gar nicht mehr.
Die Architektur spiegelte diese Ungleichheit schon immer wider: Die Niederlande produzierten in den 1990er-Jahren spektakuläre Architektur und Architekten am Fließband. Museen, Kulturbauten, Hightech-Infrastruktur, neue Stadtviertel, neue Städte. Die Stars hießen MVRDV, Mecanoo und Neutelings Riedijk, mit Rem Koolhaas als Übervater. Über Belgien wurde unter Architekten kaum geredet. Dann kam die Krise 2008 und stürzte die niederländische Bauwirtschaft mit Wucht vom Sockel.
Seitdem haben sich die Vorzeichen umgedreht. Die Niederlande lecken ihre Wunden, und die Architekturwelt schaut nach Belgien. Dort hatte die Erneuerung der Architektur schon in den 1980er-Jahren begonnen. Die Bauten von Pionieren der "Nieuwe Eenvoud" (neue Einfachheit) wie Paul Robbrecht und Hilde Daem oder Stéphane Beel gaben sich spröde, intellektuell und weit näher an der bildenden Kunst als am emsigen holländischen Machbarkeitskapitalismus. Und doch kamen Robbrecht & Daem erst vor kurzem zu weitreichender Berühmtheit, als ihnen 2013 der Mies van der Rohe Award für ihre Markthalle auf einem bisher als Parkplatz genutzten Areal mitten im Stadtzentrum von Gent verliehen wurde, ein auf verdrehten Betonsockeln ruhendes schweres hölzernes Dach mit schief durchgestecktem Kamin wie aus einem expressionistischen Film der 1920er-Jahre.
Aufsehen erregte auch der belgische Pavillon der diesjährigen Architekturbiennale in Venedig mit seinen scheinbar banalen Baudetails und den ausgebleichten Fotografien von Filip Dujardin. Dieser war durch seine surrealen fotorealistischen Collagen Fictions bekannt geworden, die den Geist von René Magritte in halb absurde, halb plausible Gebäudekollisionen auf nebligen Wiesen übersetzten. Wohl nirgendwo sind diese subversiven Scheinarchitekturen so nahe an der Realität wie in Belgien, und die Ausstellung auf der Biennale verwischte die Grenzen noch mehr.
Das 2008 in Gent gegründete Architektentrio De Vylder Vinck Tailleu, das den belgischen Pavillon mitkuratierte, bekam vor wenigen Wochen in Karlsruhe den renommierten Schelling-Preis verliehen. Ihre Bauten wie das Balletttheater C de la B in Gent und vor allem ihre Umbauten im Bestand sind präzise Collagen mit einer Prise Baustellencharme, dabei jedoch scharfsinnig durchdacht. Standardmaterialien aus dem Baumarkt treffen auf René-Magritte-artige Blindfenster, Zufälle auf der Baustelle werden nicht rückgängig gemacht, sondern frech integriert. Da bleiben Bäume mitten im Haus stehen, weil sie nun mal da waren, ein rohes Mauerwerk wird hinter einer Glasfassade ausgestellt, Brüche zwischen Alt und Neu werden nicht hinter Putz versteckt, sondern bekommen eine Hauptrolle. "Belgien ist ein durch und durch surrealistisches Land, und das erklärt auch unsere Arbeit. Mit dem Unterschied, dass wir den Realismus im Surrealen suchen," sagte Jan de Vylder 2012 im Standard -Interview.
Auch der niederländische Architekturtheoretiker Bart Lootsma, Professor an der Universität Innsbruck und Autor des im Jahr 2000 auf dem Höhepunkt des Oranje-Baubooms erschienenen Standardwerks Superdutch, ist voller Anerkennung für das flämische Überholmanöver: "Ich schätze die belgische Architekturszene sehr und sehe sie heute europaweit ganz vorne, noch vor Dänemark. Beide Länder haben ihr ursprüngliches Vorbild Niederlande abgehängt, das sich inzwischen leider von all seinen Errungenschaften verabschiedet hat." Wie konnte das passieren? Laut Lootsma nicht zuletzt aus politischen Gründen. "In den Niederlanden wurde die Rolle des Staates in Finanzierung und Governance drastisch reduziert, mit der Folge, dass das Niveau der Architektur ebenso drastisch reduziert wurde. In Belgien wurden gleichzeitig genau diese Strukturen aufgebaut, was die Baukultur enorm befördert hat."
Ein direkter Vergleich der Flachlandkonkurrenten lässt sich zurzeit im Deutschen Architekturmuseum (DAM) in Frankfurt anstellen. Die Ausstellung Maatwerk/Maßarbeit vereinigt Gebautes und Geplantes der letzten Jahre aus Flandern und den Niederlanden. Peter Cachola Schmal, Direktor des DAM und Jurymitglied des Schelling-Preises, konstatiert eine Benelux-Wachablösung: "Die Niederlande hatten durch große Aufträge und große Projekte eine dementsprechend weltweite Aufmerksamkeit gewonnen", sagt er zum Standard. "Belgien dagegen war immer unter dem Radar, hatte ein kompliziertes Planungsgeschehen und schwierige öffentliche Bauherren. Heute ist die Ära des ,Superdutch' vorbei, während den Flamen zugutekam, dass sie schon immer gut improvisieren konnten. Der Zustand der Krise ist in Belgien schließlich völlig normal."
Wie Bart Lootsma ortet auch Schmal den Motor des Aufschwungs in der Einführung der drei Baumeister für Flandern, die Wallonie und Brüssel im Jahr 1998, die als Qualitätskontrolle für die Baukultur fungieren. "Alle öffentlichen Aufträge werden über Wettbewerbe entschieden, bei denen anders als in Deutschland auch junge Büros teilnehmen dürfen", so Schmal. "Das hat das Niveau bei staatlichen Bauaufträgen enorm erhöht."
So hat sich über die Jahre eine reichhaltige Szene herausgebildet, die ihr an kleinen privaten Bauaufgaben geschärftes Können nun immer öfter in großem Maßstab anwenden kann. Während bei Rem Koolhaas geschulte Überflieger wie Xaveer de Geyter und Julien de Smedt heute global unterwegs sind, feilen andere wie Kersten Geers, Maarten van Severen oder MDW an einer speziell belgischen Architektursprache, deren intellektueller Background nicht zuletzt von der Nähe zu Kunst und Mode in den Kulturmetropolen Antwerpen und Gent genährt wird. Gleichzeitig strahlen die Bauten eine Freude am Material und am Bauen aus, die man in den Niederlanden, wo Architekten meist nur wenig Einfluss auf die Bauausführung haben, nur selten findet. So entsteht eine pragmatisch-surrealistische Mischung, die bei aller gedankenschweren Sprödheit erstaunlich viel Spaß am Entdecken bietet.