"Eine Stadt kann man nie ganz kontrollieren": Interview mit Saskia Sassen

Die Soziologin erklärt, wie Städte den Bedrohungen der Zeit widerstehen und für alle lebenswert bleiben können

"The Global City" machte Saskia Sassen 1991 bekannt, jetzt erscheint ihr neues Buch "Ausgrenzungen – Brutalität und Komplexität in der globalen Wirtschaft" auf Deutsch. Darin untersucht die US-Soziologin die zunehmende weltweite Vertreibung von Menschen aus ihrem Lebensumfeld – durch die Flüchtlingskrise akuter denn je. Kürzlich war Sassen auf Einladung der Vienna Art Week in Wien. Mit dem STANDARD sprach sie darüber, wie unsere Städte den Bedrohungen der heutigen Zeit widerstehen und für alle lebenswert bleiben können.

Sie kommen gerade aus Paris. Die Stadt steht unter Schock, und in Brüssel herrschte Ausnahmezustand. Wie können unsere Städte mit der Bedrohung von Angst und Gewalt umgehen, ohne ihre Offenheit zu verlieren?

Sassen: Die beste Verteidigung ist, die Diversität zu erhalten und darauf zu achten, dass jede Bevölkerungsgruppe wirklich Teil der Stadt ist. Paris ist im Prinzip so eine offene Stadt. Städte haben schon zahllose Machthaber überlebt: Regierende, Könige, Großunternehmen – die sind heute alle tot! Aber die Städte, in denen sie ihre Macht ausübten, leben immer noch. Wir müssen die Städte offen und beweglich halten.

Wie können wir das erreichen?

Sassen: Eine Stadt kann man, anders als einen Gewerbepark, nie ganz kontrollieren. Die Unterschiede sind zu stark, es gibt zu viele Schwerpunkte und Schnittmengen. Eine echte Stadt, die nicht nur ein dicht bebautes Megaprojekt ist, ist ihr eigener bester Freund.

Das heißt, je komplexer und unkontrollierter eine Stadt ist, desto widerstandsfähiger ist sie?

Sassen: Das ist vielleicht zu extrem formuliert. Eine Stadt braucht schon eine Steuerung, etwa für Infrastruktur und Sicherheit. Aber wenn die Regierenden einer Stadt, die ja nicht immer nur das Beste im Sinn haben, ihre Stadt komplett kontrollieren oder Teile von ihr zerstören wollen, dann wird ihnen das nicht gelingen. Genauso wenig werden die Regierenden den asymmetrischen Krieg in den Städten kontrollieren.

Was macht die asymmetrische Kriegsführung mit den Städten?

Sassen: Unsere Kriegsführung ist sozusagen durch die Hintertür in den städtischen Raum eingedrungen. Wenn heute ein Staat im Namen der nationalen Sicherheit in den Krieg zieht, resultiert daraus automatisch eine städtische Unsicherheit. Die Invasion des Irak war ein Desaster. Bagdad, eine Stadt, die selbst unter Saddam viel von ihrer Diversität bewahrt hatte, ist heute ein Katastrophengebiet. So kann man eine Stadt wirklich umbringen. Jerusalem und Damaskus sind ähnliche Beispiele. In Städten ging es im Grunde immer vor allem um den Handel. Im Basar ist es zweitrangig, ob man Christ, Jude oder Palästinenser ist. Heute haben diese Städte ihr Potenzial verloren, Konflikte zivilisiert durch Handel auszugleichen.

Ihr Buch "Ausgrenzungen" erschien 2014 im Original. Seitdem scheint es fast schon stündlich an Aktualität zu gewinnen.

Sassen: Allerdings! (lacht)

Heute sind weltweit mehr Menschen auf der Flucht als je zuvor. Sind diese Ausgrenzungen und Vertreibungen Teil derselben Entwicklung, oder haben sie verschiedene Ursachen?

Sassen: Ich glaube nicht, dass es nur eine Ursache gibt. Wir haben es mit sehr komplexen Lebenssystemen zu tun. Wenn eine neue Migrationsbewegung entsteht, frage ich mich nicht: "Wer sind diese Leute, und wie nennen wir sie?", sondern: "Was passiert dort, wo sie herkommen?" Diese Frage nach dem Warum ist absolut wesentlich.

Welche Ausgrenzungen passieren dort, wo die Flüchtenden herkommen?

Sassen: Wir stehen vor einer neuen Phase der Geschichte, die von einem massiven Verlust von Lebensraum für immer mehr Menschen geprägt ist. Krieg ist hier nur der akuteste Faktor. Aber ebenso gibt es den Klimawandel mit Trockenheit und Überflutungen, einen Landraub, der Millionen von Dörfern entvölkert, und den aggressiven Abbau von Bodenschätzen, der ganze Regionen vergiftet. Gleichzeitig gibt es in den USA 14 Millionen Haushalte, die seit der Immobilienkrise ihr Zuhause verloren haben. Diese Leute wohnen jetzt in Zeltstädten! Niemand weiß das, niemand geht dorthin! Und ein Verantwortlicher von vielen ist das Finanzwesen.

Inwiefern?

Sassen: In der Nachkriegszeit hatten wir eine Konsumwirtschaft. Je mehr die Leute kauften, desto besser ging es allen. Das ist vorbei. Heute herrscht das Kapital und erzeugt eine neue Geografie über Grenzen hinweg. Ein Beispiel: Zurzeit wird heftig in Luanda, der Hauptstadt von Angola, investiert, weil die Firmen eine Basis brauchen, von der aus sie Rohstoffe ausbeuten können. Anders als frühere Kolonialmächte sind die Chinesen, die in Afrika oder Brasilien Minen und Straßen bauen, an Politik gar nicht interessiert. Sie holen alles aus dem Land heraus, dann ziehen sie weiter. Sie sehen: Anders als beim Handel profitiert in diesem Finanzsystem nur eine Seite.

In den westlichen Metropolen steigt die Ungleichheit. In Manhattan entstehen Wolkenkratzer mit Luxuswohnungen, und die ersten Londoner ziehen nach Birmingham, weil sie sich kein Haus mehr leisten können. Verlieren die Städte ihre Bürger?

Sassen: Und die Chinesen kauften neulich zehn der schönsten Grachtenhäuser in Amsterdam! Noch dazu subventionieren wir diesen Ausverkauf, wenn Londoner Universitäten ihren Professoren den Unterhalt zahlen müssen, damit sie überhaupt in der Stadt wohnen können. Alles wird teurer, und zusätzlich saugen die Firmen auch noch das Steuergeld ab. Das ist inakzeptabel! Übrigens forsche ich zurzeit genau zu diesem Thema des urbanen Ausverkaufs unter dem Titel "Wem gehört die Stadt?".

Was haben Sie bisher herausgefunden?

Sassen: Die heutigen Maßstäbe haben eine neue Dimension. Die historische Bedeutung der Stadt wird dadurch verändert. Was früher klein und öffentlich war, ist heute groß und privat. Ganze Stadtviertel mit kleinen Straßen werden von Megaprojekten verschluckt. Ganz unabhängig von der Bebauungsdichte wird die Stadt privatisiert und enturbanisiert.

Wie betrifft das die Bürger der Städte?

Sassen: Städte sind Orte, in denen auch die Machtlosen die Chance haben, Geschichte, Kultur und Wirtschaft zu gestalten. Wenn der heutige Ausverkauf in großem Maßstab weitergeht, verlieren wir diese Urbanität. In einem privatisierten Gewerbepark können die Arbeiter zwar arbeiten, aber sie können die Stadt nicht "machen".

Verlieren die Städte also ihre Identität?

Sassen: Trotz dieser Enturbanisierung ist es sehr schwierig, eine echte Großstadt zu einem reinen Elite-Reservat oder einer Firmenzentrale umzumodeln. Auch die Elite braucht schließlich Arbeiter, sie braucht Restaurants, und so weiter. Diese Arbeiter erhalten die strategische Infrastruktur. Eine Firmenzentrale kann irgendwann wieder außer Betrieb gehen. Eine Stadt nicht. Eine Stadt macht Geschichte. Kurz gesagt: Ja, es gibt zerstörerische Kräfte, aber die Städte werden so bald nicht sterben!

 

 

Erschienen in: 
Der Standard, 13.12.2015