Eine Kirche fürs Gestühl: Das Vitra Schaudepot in Weil am Rhein

Der Campus des Möbelherstellers Vitra hat ein neues Schaudepot für seine Designklassiker bekommen. Herzog und de Meuron inszenierten das Stuhllager als sakrale Ur-Hütte.

Wie ein Tempel unbekannter Konfession und unbekannten Alters sieht es aus. Ein millimeterdünnes schwarzes Satteldach über grob gebrochenem, leuchtendrotem Ziegel. Keine Fenster, nur in der Mittelachse eine hohe schmale Tür. Das Ganze thront auf einem erhöhten, abgetreppten Vorplatz, wie eine Kultstätte, an der Hohepriester Opfer darbringen.

Was so archaisch daherkommt, ist eigentlich etwas ganz Banales: Ein Möbellager. Aber der Vitra-Campus auf dem Firmengelände des gleichnamigen Möbelherstellers im deutschen Weil am Rhein war noch nie ein Hort der Banalität. Was als Neuanfang nach einem Brand 1981 begann, wurde unter der Leitung des Vitra-Chefs Rolf Fehlbaum zu einer Art "Stars auf der Wiese"-Schau.

Den Neubauten von Nicholas Grimshaw folgten 1989 das Vitra Design Museum von Frank Gehry und 1993 das Feuerwehrhaus von Zaha Hadid, ihr erster realisierter Bau, dem man seine 23 Jahre heute kaum ansieht. Weiteres aus der Pritzker-Preis-Liga: Eine Lagerhalle von Alvaro Siza, 2010 die hoch übereinandergetürmten schwarzen Langhäuser des VitraHaus-Showrooms von Herzog und de Meuron und zuletzt die zartweiße, runde Halle des japanischen Büros SANAA.

Der Vitra-Campus hat sich dadurch nicht nur zum Besuchermagneten entwickelt, auch die Sammlung ist stetig angewachsen und umfasst über 100.000 Objekte. Es mussten also abermals neue Räume her. Doch diesmal sollte es kein spektakuläres Schaustück sein. "Wir wollten keine Architektur, die knallt“, so Vitra-Codirektor Marc Zehetner. "Die Objekte sind die Stars und sollten im Vordergrund stehen." Der emeritierte Vorsitzende Rolf Fehlbaum bekräftigt: "Der Vitra Campus ist ein Produktionsort, kein Museum." Als Partner für diese Sachlichkeit wählte man die Schweizer Herzog und de Meuron, die somit zum zweiten Mal am Campus antreten durften.

Nun ist es ja so: Wenn Schweizer ihre Bescheidenheit beteuern, heißt es aufpassen. Denn helvetische Zurückhaltung kommt nicht als arte povera, sondern millimetergenau präzise und mit luxuriös-sinnlichen Oberflächen daher. So auch beim Schaudepot: Museal ist es nicht geworden, aber auch nicht bescheiden. Ähnlich wie die fast zeitgleich eröffnete New Tate Modern in London (Der Standard berichtete) wächst es archaisch und wuchtig aus einem industriellen Bestandsbau heraus.

Im Inneren sind 430 ausgewählte Objekte chronologisch in hohe Regale geschlichtet, vom Anfang des 19.Jahrhunderts bis zu den 3D-gedruckten Sesseln von heute. Neben Klassikern von Eames, Loos und Colombo findet sich auch Unbekanntes wie ein Flugzeugsessel aus den 1940er Jahren. Bonbonbunte Farbexplosion mittendrin: Die Sessel aus den Sixties mit Verner Pantons Kunststoff-Sinnlichkeit. Die letzten Zweifel an der sakralen Aura des "Ur-Hauses" werden dann durch das wie ein Kruzifix auf der Stirnseite thronende Ettore-Sottsass-Regal "Carlton" von 1981 zerstreut. Das Gros der Sammlung bleibt jedoch unzugänglich im Keller und ist nur durch schmale Guckfenster zu erspähen, die Rekonstruktion des Büros von Charles und Ray Eames ist etwas unrühmlich als Glasvitrine in einem schmalen Gang versteckt.

Fazit: Ein Tempel oder einfach nur ein Haus mit Möbeln? Ein klares Statement mit räumlicher Präsenz auf jeden Fall, auch wenn den Schaustücken im strengen, fensterlosen und grell beleuchteten Giebelhaus-Korsett etwas die Luft weg bleibt und die äußere Ankündigung einer erhabenen Aura von den sachlich-soliden Regalen nicht eingelöst wird. Lauert das Ikonische also auch im Bescheidenen? Zur Klärung dieser und anderer Fragen traf der Standard Architekt Pierre de Meuron im Vitra-Büro.

Erschienen in: 
Der Standard, 02./03.07.2016