Ein Ring an der Tangente

Die vorige Woche eröffnete ÖAMTC-Zentrale, von den Architekten Pichler & Traupmann spektakulär neben die Wiener Stadtautobahn gesetzt, spart nicht an Kurven und Schwüngen. Dabei erweist sie sich bar jeder überladenen Mobilitätssymbolik als Paradebeispiel dafür, wie ein Gebäude seine Form findet.

Sie mag elegante Kurven haben, die Wiener Südosttangente, doch Dynamik ist der chronisch verstopften Stadtautobahn eher selten zu Eigen. Das ändert sich ab jetzt, zumindest visuell. Denn dort, wo die Tangente die Ostautobahn kreuzt, hat sich ihr sozusagen tangential ein runder Stahl-Glas-Tornado genähert, der in luftiger Fahrbahnhöhe über dem Stadtentwicklungsdurcheinander des äußeren 3.Bezirks schwebt: Die neue Zentrale des ÖAMTC, die vorige Woche rechtzeitig zum 120.Jubiläum des Clubs bezogen wurde.

Mobilität, Geschwindigkeit, Dynamik und Rennstrecke, Tangente und Ring: Das Assoziationsvokabular, das die Kombination aus Bauherr und Bauplatz nahelegt, birgt die Gefahr, sich im symbolisch überladenen Kurvenmikado zu verlieren. Keine Frage, man hätte es vermutlich auch einfacher haben können: Ein quaderförmiger Büroblock, obendrauf das Logo, irgendwo dazu ein Streifen in Corporate-Identity-Farbe, fertig.

Doch das, was sich der ÖAMTC 2013 im Architekturwettbewerb für sein neues Mobilitätszentrum wünschte, war weit mehr als gestapelte Büroetagen für die rund 800 Mitarbeiter. Schließlich sollte der Neubau nicht nur Kundenzentrum und Stützpunkt sein, sondern auch die bisher auf fünf teilweise schon arg in die Jahre gekommene Standorte verstreute Verwaltung unter ein Dach bringen. Ein Umzug beispielsweise vom feinen Schubertring an die mit durchschnittlich rund 70 Dezibel dröhnende Tangente, das weckt Ängste bei den Mitarbeitern. Um diese abzufedern, wurde mit Hilfe der Beraterfirma M.O.O.CON ein genaues Profil der Wünsche erstellt (mehr dazu im Immobilienteil).

Callcenter in der Beletage

Das Ergebnis in der Innenansicht: Man sieht Automobilisten in bequemen Sesseln, die durch riesige Glasfronten die Prüfung ihres Wagens mitverfolgen, der eine Etage tiefer in der hellen, geschwungenen Werkstatt steht, die rein gar nichts von der sonst üblich ölverschmierten Neonlicht-Garagen-Tristesse hat. Zwei Stockwerke höher flirren im Callcenter der Notrufzentrale die Finger über Tastaturen, der Blick geht über die geschwungene Glasfront hinaus ins Freie. Ein Callcenter erwartet man für gewöhnlich eher in gesichtslosen Bürokisten an der Peripherie, nicht in der Beletage einer Unternehmenszentrale. Hier jedoch sind Werkstatt und Notrufzentrale Teil der Identität, wie der ÖAMTC betont.  Der Raum, der diese neue Gemeinsamkeit am deutlichsten vermittelt, ist das zentrale Atrium, dessen umlaufende weiße Brüstungen sich zueinander versetzt in die Höhe staffeln. Die Ähnlichkeit zu den sahnigen Spiralen von Frank Lloyd Wrights ikonischem Guggenheim-Museum ist nicht ganz von der Hand zu weisen.

Kurvig geht es also auch im Inneren zu, doch findet sich bei der Erkundung der Rundungen für jede ein handfester Grund. Auch der Grundriss mit seinen fünf Bürotrakten, die wie Speichen zwischen Atrium und Außenring stecken, entwickelte sich aus den Wunschkatalog der Mitarbeiter, wie Architekt Christoph Pichler  vom Büro Pichler & Traupmann erklärt: "Wir hören jetzt oft, das Gebäude erinnere von oben an ein Lenkrad oder einer Felge, aber ran haben wir beim Entwurf überhaupt nicht gedacht." Vielmehr resultiere die Sternform aus dem Wunsch, abgeschlossene Bürotrakte zu vermeiden. So sind diese dank der geschwungenen Form flexibel aufteilbar, gleichzeitig ergeben sich an den äußeren Enden ruhigere Bereiche für die Mitarbeiter, die sich vor Großraumbüro-Trubel scheuen.

Rundungen mit Grund

"Das Atrium wiederum funktioniert wie der Platz einer Kleinstadt", freut sich Pichler. "Hier findet die informelle Kommunikation statt". Den fünf bisher in relativer Isolation aneinander vorbei arbeitenden Abteilungen soll dadurch auf sanfte Art zum ÖAMTC-Gesamtbewusstsein verholfen werden. In der Tat lugt ständig hier und da ein neugieriges Gesicht über die Brüstung ("Wie alte Weiberl im Fenster," lacht eine Kollegin), und vom Kundenbereich geht der Blick durchs Atrium hinauf bis zum Landeplatz des Christophorus-Hubschraubers, der wie eine scheibenförmige Krone auf dem Neubau thront. Die Rundung der Werkstatt wiederum ergab sich aus dem optimalen Ablauf ohne übermäßiges Herumrangieren, wie Architekt Johann Traupmann erklärt. Der äußere Stahl-Glas-Ring erfüllt gleich mehrere Aufgaben: Er ist Fluchtstiegenhaus, Schallschutz und Kommunikationsfassade zugleich. Und der Helipad auf dem Dach schließlich ist rund, weil Helipads nun mal rund sind.

So lässt sich hier geradezu beispielhaft nachvollziehen, wie ein Gebäude aus innerer Logik heraus zu seiner idealen Form findet. Die Kombination aus bewährten Elementen, Abwandlungen von Typologien, Sonderformen und Von-Innen-nach-Außen-Stülpen ergibt als Gesamtsumme ein maßgeschneidertes Ganzes,  das die beiden Architekten im Moment der Fertigstellung selbst noch ein wenig zu erstaunen scheint. Schließlich zwang die Aufgabe auch das Büro zu ganz neuen Arbeitsdimensionen. "Wir haben fast jede Genehmigung gebraucht, die es in Wien gibt, vom Bodengutachten bis zur Luftfahrt!" sagt Christoph Pichler.

Dass es dennoch bei einer vergleichsweise kurzen Bauzeit von 20 Monaten blieb, dürfte auch damit zusammenhängen, dass die Stadt Wien sich vom ÖAMTC-Landmark die Belebung eines heute mehr oder weniger aus Büroblöcken im XXL-Format, industriellen Resten, Hochhaus-Baustellen und sehr viel Infrastruktur bestehenden Stadtviertels erhofft. Dass diese Transformation funktionieren könnte, glaubt man spätestens beim Ausblick im obersten Stockwerk des Neubaus. Lugt man über Helipad und Glasfassade hinweg, eröffnet sich ein Stadtpanorama von aufregender industriell-postindustrieller Rauheit, von den Gasometern bis zum dunklen Schiff der T-Mobile-Zentrale, das mit seiner ganz anderen Interpretation von Dynamik über die breite Fahrbahn der Südosttangente herüber grüßt.

So erweist sich ein Gebäude, das auf den ersten Blick beinahe aus der Kurve zu fliegen droht, als durchdachtes Gesamtwerk aus Fahrwerk, Chassis und Komfort, das auch im letzten Winkel noch die Kurve kriegt, wie ein Rad, das sich so schnell dreht, dass es wieder statisch wirkt. Und ganz en passant liefert es eine schlüssige Begründung, warum Architektur für eine Unternehmenszentrale viel mehr sein kann als ein gebautes Logo.

 

 

Erschienen in: 
Der Standard, 10./11.12..2016