Ein Dorf sieht rot

Wie die Planung eines neuen Marktplatzes einen Ort verändern kann, wenn man die Bewohner mitreden lässt, zeigt Zeillern im Mostviertel

Ein Dorf wie viele in Österreich. Nicht weit von Autobahn und Bundesstraße, wenige Kilometer hinter einem Kreisverkehr mit überdimensionierten Birnen in der Mitte. Malerisch gelegen in einem breiten Talkessel zwischen sanften Hügeln. Ein Schild am Ortseingang sagt "Willkommen in der Wohlfühlgemeinde 2009". Es gibt eine Hauptstraße, zwei Wirtshäuser und einen Nahversorger. Ein Hahn kräht, eine Katze räkelt sich in der Sonne, ein Bach rauscht. Von irgendwoher ertönt ein Blasmusikorchester. Es gibt ein schmuckes Schloss und eine schlichte, weißgetünchte Kirche. Dazwischen gibt es einen Marktplatz, über den die Kirchgänger in Anzug und Dirndl nach der Sonntagsmesse spazieren. Das Dorf heißt Zeillern, und sein Marktplatz ist brandneu - und rot.

Auf dem roten Platz steht Dorfpfarrer Rupert Grill und freut sich: "Bevor es den Platz gab, war die Kirche von wucherndem Gestrüpp verdeckt, man hat sie im Vorbeifahren gar nicht mehr gesehen. Eine Verbindung zum Schloss gab es auch nicht. Dabei werden dort mehr als 50 Hochzeiten im Jahr gefeiert. Jetzt steht die Kirche im Blickpunkt, und die Hochzeitsgesellschaften können von der Kirche ohne Umweg zur Feier gehen." Ein Dorfbewohner grüßt den Pfarrer und schiebt sein Rad über den rotgefärbten Betonboden. Eine ältere Frau in Tracht bleibt vor der langen Wand aus kantigen Holzlamellen am Rand des Platzes stehen und liest die Neuigkeiten im Schaukasten. Für die "Zeillinga" ist die Architektur offenbar kein Fremdkörper. Und das liegt daran, dass sie sie selbst geplant haben.

2008 beschloss die Mostviertel-Gemeinde, den seit langem leerstehenden ehemaligen Gasthof an dieser Stelle zu kaufen. Auf der einen Hälfte des Grundes entstand ein Wohnbau. Die andere Hälfte, 560 Quadratmeter groß, wurde reserviert für einen neuen Marktplatz. Der alte, der aus kaum mehr als einem kleinen Brunnen bestand, war längst dem Durchgangsverkehr zum Opfer gefallen. Es stellte sich nun die Frage: Was tun mit den 560 Quadratmetern? Was muss ein Dorfplatz für eine 1750-Seelen-Gemeinde können? Und: Brauch ma des überhaupt? Wozu ist das gut, wenn man nicht einmal drauf parken kann?

Nach einem öffentlichen Hearing beauftragte die Gemeinde schließlich die Architektengruppe nonconform mit der Planung. Deren Vorschlag, dabei die Bevölkerung miteinzubeziehen, stieß auf offene Ohren. Für nonconform nicht das erste Projekt dieser Art. "Wir hatten früher bei vielen öffentlichen Projekten erlebt, dass die Leute nicht informiert werden, dann etwas Fertiges vor die Nase gesetzt bekommen, und niemand weiß, warum das dann genau so ausschaut", sagt Architekt Roland Gruber. Daher entwickelten die Architekten 2005 ein Gegenkonzept: Sie entwerfen live und vor Ort und fragen die Leute, was sie eigentlich wollen. "So ein Platz ist schließlich keine rein ästhetische Aufgabe, die man zu Hause am Schreibtisch lösen kann. Es geht um das Herz eines Ortes, da will jeder mitreden."

Also schlugen nonconform für drei Tage ihre Zelte in Zeillern auf - auf neutralem Boden im Pfarrheim der Kirche - und luden zur Ideenwerkstatt. Der Erstkontakt zwischen Architekten und Bewohnern: ein zögerliches Abtasten. "Da gab es Berührungsängste", erinnert sich Wolfgang Strobl von der Dorferneuerung Zeillern. Viele erwarteten, wie sonst üblich, schon fertige Ergebnisse präsentiert zu bekommen. Als ihnen klarwurde, dass die Ergebnisse von ihnen erwartet wurden, fingen die Ideen nur so zu sprudeln an. Der Marktplatz war dabei nur eine von vielen. "Es kamen 200 Leute, und am Ende hatten wir 500 Ideen", sagt Wolfgang Strobl. "Damit hatte niemand gerechnet."

War es anfangs nur um einen kleinen Dorfplatz gegangen, wurde nun der ganze Ort und seine Zukunft zum Thema. Aus den Ideen entstanden Arbeitsgruppen zu Themen von Wanderwegen bis zu Altenbetreuung: Demokratie wie aus dem Lehrbuch. Für den Platz selbst destillierten nonconform aus den Vorschlägen drei Szenarien. Bei der Abstimmung am Schluss wurde die Idee des "Roten Teppichs" zum Sieger gekürt, der den Platz mit den wichtigen Punkten im Ortszentrum verknüpfen sollte.

Einer dieser Punkte: Das Schloss, gleichzeitig Sitz des Österreichischen Blasmusikzentrums (mit Konzerten und Festivals), hat sich als ideale neue Marke für den Ort angeboten. Das schwachbrüstige Label "Wohlfühlgemeinde" wurde eingemottet, man setzt auf die Marke Musik. "Wir wollen die Gemeinde neu positionieren", sagt Bürgermeister Rupert Perger (VP). "Dank der Ideenwerkstatt haben wir einen Plan für die nächsten 20 Jahre entwickelt."

Dass das Schloss in Gemeindebesitz steht und sich rechnen muss, zeigt die andere, nüchterne Seite. In einem kleinen Ort ohne große Gewerbegebiete zahlt man einen neuen Dorfplatz nicht aus der Kaffeekassa, noch dazu drohten Wirtschaftskrise und gekürzte Fördermittel den Plan zu kippen. Es wurde also wieder die "Brauch ma des?"-Frage gestellt. "Da war einiges an Überzeugungsarbeit nötig", erinnert sich der Bürgermeister. Anfang dieses Jahres konnte endlich mit dem Bau - die Kosten betrugen rund 350.000 Euro - begonnen werden, Ende Juli wurde er feierlich eröffnet.

"Als die Leute dafür abgestimmt haben, fanden sie die Farbe lustig. Vielen war nicht klar, dass das ernst gemeint war", erinnert sich Wolfgang Strobl lachend. Natürlich gibt es Gegenstimmen, die über das "Mostviertel-Moskau" spotten, doch sie halten sich in Grenzen. "Dann hören sie: Hättets halt mit abgestimmt!", sagt Dorferneuerer Strobl, der sich selbst über Mangel an tatkräftiger Zustimmung nicht beklagen kann: Die von ihm entworfenen Sitzbänke aus Lärchenholz baute er gemeinsam mit Helfern aus dem Dorf vor Ort zusammen. Ein weiteres Zeichen, dass die Bewohner den Platz als den ihren ansehen. "Hätten wir nur gute Architektur eingekauft, wäre er vielleicht genau so schön geworden", sagt Bürgermeister Perger. "Aber er hätte nicht diese Akzeptanz."

 

(erschienen in: Der Standard, 17./18. September 2011)