Ein Ding, sie zu trennen

Vor 50 Jahren wurde die Berliner Mauer errichtet, nicht die letzte ihrer Art: Eine Geschichte der gebauten Grenzen zwischen Hier und Dort

Als DDR-Staatschef Walter Ulbricht am 15.Juni 1961 die vielzitierten Worte sprach: "Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten", sagte er nicht nur in Bezug auf Berlin die Unwahrheit. Auch darüber hinaus war seine Aussage kaum haltbar, dürften sich doch mit Sicherheit zum Zeitpunkt seines Ausspruches nicht wenige Menschen mit genau dieser Absicht getragen haben. Wo ein Haus ist, da ist schließlich, allen neuzeitlich vollverglasenden Bemühungen zum Trotz, fast immer auch eine Mauer.

Trotzdem denkt heute beim Stichwort "Die Mauer" immer noch jeder an die in Berlin. Sucht man bei Amazon nach Büchern zum Thema, besetzt die Berliner Mauer die ersten zehn Plätze, erst dann folgt der Bastlerkracher Selbst mauern, betonieren und verputzen: Heimwerken leicht gemacht.

Dabei gäbe es genügend andere Beispiele. Stadtmauern baut man schon seit mindestens 5000 Jahren, ihre Geschichte ist mit der Entstehung der Städte untrennbar verbunden. Das uralte Jericho hatte zwar, Bibel hin oder her, die meiste Zeit gar keine, aber etwas weiter östlich im Zweistromland standen bereits mächtige Bastionen und trennten das Wir vom Sie, das Innen vom Außen. Militärischer Schutzwall, Heimwerkerstolz im Vorgarten, architektonisches Schaustück, die Mauer ist der Evergreen des Bauens.

Ob monumental oder winzig, die Frage, wie das Innen vom Außen zu trennen ist, bleibt die gleiche. Jan Turnovsky etwa spinnt in seinem Essay Die Poetik eines Mauervorsprungs anhand eines ebensolchen eine ganze Philosophie aus der Frage, warum bei Ludwig Wittgensteins besessen präzisem Entwurf des Wittgensteinhauses in Wien die innere und äußere Symmetrie eines Fensters in der Außenmauer einfach nicht gleichzeitig hinzubekommen war.

Zurück nach Berlin: Auch hier zeigte die Mauer nur in den ersten Monaten zu beiden Seiten ein gleiches Gesicht, eine hastig aufeinandergemörtelte 30 Zentimeter dicke Zementsteinmauer mit Stacheldrahtbesatz. "Jeder Maurergeselle würde ja zögern, das Werk, das da an der Sektorengrenze entstand, als ,Mauer' zu bezeichnen. Die Grobheit der Bauweise, der Verzicht auf jedes Finish sind so eklatant, dass man versucht ist, die Schäbigkeit des Gesamteindrucks als erwünschten Nebenaspekt zu deuten", schreibt Leo Schmidt, Professor für Denkmalpflege an der Uni Cottbus, der seit langem zur Baugeschichte der Berliner Mauer forscht.

Wartungsarm und formschön

Nach und nach wurde sie optimiert, nie jedoch zur Gänze, und blieb bis zum Schluss Patchwork. Was pauschal als "die Mauer" galt, zeigte zu keinem Zeitpunkt ein einheitliches Bild. Was anfangs Linie war, schwoll hypertroph immer weiter an, bis auf eine Breite von 40 bis über 100 Metern. Die Zementmauer wurde zu einem mehrschichtigen Gebilde aus Betonplatten, Gräben, Zäunen, Fahrspuren, geharkter Erde, wie ein horizontales Sandwich zwischen der östlichen "Hinterlandmauer" und dem von einem Betonrohr gekrönten Abschluss nach Westen.

Dabei wurde der Anblick der Westseite über die Jahre immer sauberer, glatter und unkriegerischer, während die Ostseite in gleichbleibender martialischer Abschreckung verblieb. Selbst den DDR-Grenztruppen war klar, dass für einen "antifaschistischen Schutzwall" das Innen und Außen verkehrtherum aufgezogen waren.

Als nächstes kamen Betonplatten, die eigentlich für den Wohnungsbau vorgesehen waren. Man stellte sie kurzerhand hochkant zwischen Betonpfähle auf. Das Problem: Sie fielen leicht um, wenn Fluchtwillige mit Fahrzeugen dagegenfuhren. 1965 wurde ein neuer Prototyp vorgestellt. "Sehr kulturvoll", lobte Verteidigungsminister Heinz Hoffmann das neue Design in knappen Worten. "Mauer gefällt sehr, besonders durch die aufgesetzten Kanalisationselemente."

Die Westseite der Mauer war schließlich immer auch das Gesicht des Staates. Als sich die Ost-West-Verhältnisse in den 1970er- Jahren normalisierten, musste auch dieses Gesicht respektabler werden. So wurde der nächste Typus entwickelt: Er trug den schicken Namen "Grenzmauer 75". Ein "der Hauptstadt der DDR angemessenes Erscheinungsbild" werde hier geboten, "wartungsarm und formschön", wie es der Chef der Grenztruppen Klaus-Dieter Baumgarten angesichts der 1,20 mal 3,60 Meter großen Betonteile entzückt formulierte.

Aber Beton war nicht alles. Vor allem dort, wo die Welt am aufmerksamsten hinschaute, am Brandenburger Tor, sollte es grün und hübsch werden. Hier machte Erich Honecker die ansprechende Platzgestaltung mit Blumenkübeln, die sich praktischerweise zu Barrieren gegen unliebsame Demonstranten umfunktionieren ließen, zur Chefsache.

Repression und grüne Grenze waren schließlich noch nie ein Widerspruch, wie andere geteilte Städte zeigen. Die UN-Pufferzone, die das zypriotische Nikosia seit 1974 in zwei Teile trennt, besteht vor allem aus wild überwuchertem Niemandsland.

Im nordirischen Belfast versicherte der britische Kommandant nach dem Errichten der ersten "Peacelines" zwischen protestantischen und katholischen Wohnvierteln 1969, diese seien nur provisorisch, man wolle keine Berliner Mauer bauen. Heute gibt es allein in Belfast mehr als 40 davon in allen Formen und Materialien, doppelt so hoch wie die in Berlin. Dafür verspricht man auch hier, grüner zu werden, und plant, anstatt neuer Mauern dezente "Environmental Barriers" zu errichten.

Wie das Grün das Grau zumindest symbolisch überwinden kann, zeigt ein Projekt der Architektin Gabu Heindl: Sie legte ein Spielfeld aus Kunstrasen in den Innenhof des Kremser Gefängnisses und klappte es dort, wo es an die unüberwindbaren Mauern stieß, einfach hoch. "Die Ungerechtigkeit des kleinen Spazierhofes sollte unbedingt sichtbar bleiben", sagt Heindl. "Ich wollte die Mauern nicht durch eine optische Täuschung unsichtbar machen."

Kurioserweise wäre die Berliner Mauer, gäbe es sie heute noch, sogar fast unsichtbar geworden: Kurz vor dem Ende der DDR plante man, sie durch eine "Hightech-Mauer" zu ersetzen, ohne Todesschüsse, dafür mit elektronischer Sensorik. 1989 steckte der marode Staat sogar noch 1,2 Milliarden Ostmark in die Grenzsicherung. Die Geschichte hatte ihre eigene Idee, wie Mauern aufzulösen seien: ganz archaisch mit dem Hammer.

 

(erschienen in: DER STANDARD,  6./7. 8. 2011)