Die Stadt der offenen Türen

Entwickeln, verändern, verdrängen: Die jetzt eröffnete IBA Hamburg zeigt die Chancen und Gefahren der heutigen Stadtentwicklung

Hamburg, Waterkant: Obwohl von jeher in Bild und schmachtendem Seemannslieder-Ton zu einem Synonym verschmolzen, sind Stadt und Ufer erst in den letzten Jahren langsam zusammengerückt. Mit der brandneuen Hafencity entsteht, wo früher Docks und Speicher waren, eine kantige Waterfront, hochpreisig, schick und urban, gekrönt von der in Zeitlupe ihrer Fertigstellung entgegenwachsenden Elbphilharmonie (momentaner Hoffnungshorizont: das Jahr 2017).

Damit nicht genug - nun soll es auch über das Wasser gehen: Hamburg will den Sprung über die Elbe wagen. Unsichtbar hinter Brücken, Kränen und dem Gewirr von Hafenbecken liegt auf der anderen Seite der Stadtteil Wilhelmsburg. Ein von der Zeit vergessenes Arbeiterviertel, von Schnellstraßen zerschnitten, mehr als 100 Nationalitäten sind hier zu Hause. Eine Gegend, in die der betuchte Innenstadt-Hamburger nur selten einen Fuß setzt.

Stadtentwicklung, hanseatisch-pragmatisch

Um das zu ändern, beschloss man, eine Internationale Bauausstellung (IBA) in Hamburgs Süden auszurichten - ein bewährtes Mittel, um Städten auf die Sprünge zu helfen. Die erste IBA fand 1901 in Darmstadt statt, es folgten Berlin 1957 und 1987 und das Ruhrgebiet 1999. Seitdem haben IBAs Hochkonjunktur: Heidelberg und Basel sind schon gestartet, Berlin will dieses Jahr seine dritte Bauausstellung beschließen.

In Hamburg will man zeigen, wie man Städten in Randgebieten und Brachflächen wieder Leben injizieren kann. Eine zweite Hafencity soll es auf der Elbinsel nicht geben, auch keine glamouröse, mit plakativen Pavillons protzende Weltausstellung. Stattdessen behutsame Stadtentwicklung, ganz hanseatisch-pragmatisch. Dass diese unter Einbeziehung der Beteiligten stattzufinden hat, ist angesichts des traditionellen Hamburger Bürgerstolzes eine Selbstverständlichkeit.

Ist Stadtplanung sexy?

Nach gründlicher Vorbereitung fiel 2007 der Startschuss. Sechs Jahre und eine Milliarde Euro später sind 46 der insgesamt 63 Projekte und 1300 von geplanten 5000 Wohnungen fertig und herzeigbar. Das Präsentationsjahr 2013 wurde am vorigen Wochenende eröffnet.

"Es geht nicht um einzelne schöne Häuser. Der wichtigste Schritt ist die kulturelle Erweiterung der Stadt, vor allem in den Köpfen. Damit wird es uns gelingen, die trennende Funktion der Elbe zu überwinden", versicherte Bürgermeister Olaf Scholz (SPD).

Stadt als Labor

Darüber hinaus will man das als eher akademisch und unsexy geltende Thema Stadtplanung unter die Leute bringen, wie Architekt und IBA-Geschäftsführer Uli Hellweg nüchtern erläuterte: "Stadtentwicklung kann man erst anfassen, wenn sie Architektur geworden ist. Eine Bauausstellung ist das einzige Format, mit dem das möglich ist."

Damit die Besucher der über 35 Quadratkilometer verstreuten Einzelprojekte nicht die Übersicht verlieren, ersann man die "IBA in der IBA", einen kleinen Präsentierteller für die Stadt als Labor in beruhigend greifbarer Form, als Stadt der offenen Tür.

Modelle für Wohnen und Arbeiten

Unter dem etwas pompösen Label "Hybrid Houses" finden sich Modellhäuser, die Wohnen und Arbeiten unter einem Dach verbinden - was von den Mietern, die sich schon gefunden haben, allerdings kaum genutzt wird. Die "Smart Price Houses" daneben reihen Häuser als Selbstbau-Sets neben Fertighaushersteller, die ihr Walmdachhäusl-von-der-Stange-Reservat verlassen haben.

Die größten Ohs und Ahs der Besucher, die trotz klirrender Kälte zum Tag der offenen Tür gekommen waren, erntete das von den Grazer Architekten Splitterwerk mitentwickelte BIQ-Haus: eine Fassade aus lustig blubbernden Flachaquarien mit rapide wachsenden Algen, die als Biomasse in getrockneter Form das Haus hinter ihnen beheizen sollen - "Die Stadt im Klimawandel" ist ein weiteres IBA-Leitthema.

Arbeiterviertel als "Weltquartier"

So weit die Zukunftsmodelle. Weniger spektakulär, jedoch viel ausschlaggebender für Erfolg oder Scheitern der IBA ist der schnöde Wohnungsbau. Hier wagt man die Gratwanderung, ein bisher benachteiligtes Stadtviertel aufzuwerten, ohne die heutigen Bewohner von der Flut zahlungskräftiger Pionierbohemiens fortschwemmen zu lassen.

Bemüht hat man sich: Im sogenannten Weltquartier mit 1700 Bewohnern aus 30 Nationen wurde ein Arbeiterviertel unter Beteiligung der Bürger modernisiert - auch der migrantischen. "Eine IBA kann nicht einfach wie ein Ufo irgendwo landen", betont IBA-Chef Uli Hellweg. "Die Bürger müssen erkennen, dass es um sie geht. Wir haben allerdings gemerkt, dass Bürgerbeteiligungen eher mittelschichtsorientiert sind. Also sind wir mit mehrsprachigen Studenten auf die migrantischen Bewohner zugegangen und haben so ihre Herzen geöffnet."

Eine IBA ist kein Ufo

Dass der Bauausstellung nicht alle Hamburger Herzen zuflogen, war allerdings bei der Eröffnungsfeier nicht zu übersehen. Nicht wenige der beteiligten Bürger kritisierten, dass man zwar mitdiskutieren durfte, die wesentlichen Entscheidungen aber ohnehin schon getroffen waren. "Die Mieten passen sich jetzt schon dem hohen Niveau des nördlichen Hamburgs an", klagte eine Anwohnerin, die Flugblätter verteilt. Noch lauter protestierten die rot beflaggten Demonstranten, die der IBA vorwarfen, ihr gehe es nur um kurzfristige Injektionen und nicht um die Stadt für alle.

Bürgermeister Olaf Scholz kennt die Kritik: "Es war von vornherein das Konzept, niemanden zu verdrängen. Hamburg wächst, deshalb bauen wir viele neue Stadtteile und nehmen so den Druck von einzelnen Vierteln."

Gartenschau als Lockmittel

Was die Angst vor der Gentrifizierung etwas lindern könnte, ist die Tatsache, dass die IBA auch nach sechs Jahren an vielen spurlos vorbeigegangen ist. "Gut 50 Prozent der Hamburger wissen heute nicht, dass es die IBA überhaupt gibt", gibt Uli Hellweg zu. Daher soll die Internationale Gartenschau, die Ende April auf demselben Areal eröffnet wird, als Publikumsmagnet fungieren. Blumen locken eben mehr als experimentell blubbernde Algen.

Ob es der IBA gelingen wird, Stadtentwicklung so greifbar zu machen, dass sie auch die kritischen hanseatischen Bürger akzeptieren, und ob man Stadt erneuern kann, ohne die Bevölkerung auszutauschen? Die Macher der zahlreichen nächsten IBAs werden sich jedenfalls genau anschauen, ob das Experiment im Labor Hamburg Erfolg hat.

Erschienen in: 
Der Standard, 30./31.3.2013