Der Louvre-Lens bringt dank der japanischen Architekten SANAA mit Leichtigkeit Licht ins Dunkel des französischen Kohlereviers
Bergbau, Fußball, Flachland, Regen: Der raue äußerste Norden Frankreichs ist nicht gerade eine Urlaubsdestination. Die größten Besuchermagnete sind immer noch die Grabstätten des Ersten Weltkriegs, dessen Frontlinien hier tiefe Wunden schlugen. Mitten im Kohlebecken zwischen Lille und Arras gelegen, ist die 35.000-Einwohner-Stadt Lens eine der unglamourösesten und ärmsten dieser Region, überragt von zwei riesigen schwarzen Pyramiden aus Abraumschutt: Zeugen des Kohleabbaus, der in den 80er-Jahren zu Ende ging. Die zweite Erhebung: Die betonrohe Stadionburg des einstigen französischen Fußballmeisters RC Lens, der inzwischen in der Zweiten Liga dümpelt.
Ein klassischer Fall von postindustrieller Depression also. Ein Hoffnungsschimmer zeichnete sich ab, als die Regierung Raffarin 2003 beschloss, die eherne Tradition des Pariser Zentralismus zugunsten der Regionen aufzuweichen. Darauf begann die Hauptstadt, ihren kulturellen Überschuss gönnerhaft in Filialen auszulagern, beginnend mit dem Centre Pompidou Metz, das 2010 eröffnete.
Ihm folgt nun das Museum der Museen: der Louvre. Als französische Exportmarke längst auf Globalkurs (2015 eröffnet der Louvre Abu Dhabi), soll es in der Heimat eben genau den darbenden Norden bereichern. Mehrere Städte hatten sich beworben, im November 2004 fiel die Wahl auf Lens.
Das Ziel war von Anfang an klar: Ein weiteres in der Reihe der laut " Hier bin ich!" schreienden Guggenheim-Bilbao-Kopien sollte es bitte nicht werden. Das hätte kaum zur sanften Entwicklung, die Daniel Percheron, dem Präsident der Region Nord-Pas de Calais, vorschwebt, gepasst: Vorbild, so Percheron, sei das deutsche Ruhrgebiet, das weitgehend erfolgreich Kohle und Stahl durch Grün und Technologie ersetzt hat.
Steht man heute auf dem ehemaligen Zechenareal zwischen dem Stadion und den Schuttpyramiden, sieht man, dass dieser Wunsch in Erfüllung gegangen ist. Das heißt, man sieht es fast nicht, denn der Louvre-Lens, der nach genau drei Jahren Bauzeit am 12. Dezember seine Tore öffnete, scheint trotz seiner 7000 Quadratmeter Ausstellungsfläche und massiven 150 Millionen Euro Baukosten mit aller Macht unsichtbar sein zu wollen.
Kein Wunder: Den Architekturwettbewerb hatte das für filigrane Zurückhaltung bekannte japanische Duo Kazujo Sejima und Ryue Nishizawa vom Büro SANAA gewonnen. Die Pritzker-Preisträger von 2010 reihten fünf flache, rechteckige Kisten scheinbar zufällig Eck an Eck aneinander. Die Außenhaut aus Glas und gebürstetem Aluminium ist ein Paradebeispiel für Diskretion: Licht und Leichtigkeit, wo bisher nur steinkohleschwarze Schwere herrschte.
Leuchtende Banalität
"Das Projekt von SANAA entsprach als einziges genau dem, was wir wollten" , erklärt Henri Loyrette, Direktor des Pariser Louvre, bei der Eröffnung. "Keine große Geste, sondern ein Raum, in dem alles möglich ist." Regionalpräsident Percheron, nicht um funkelndes Grande-Nation-Vokabular verlegen, schwärmte gar von einer "banalité lumineuse."
In der Tat: Unscheinbarer geht es kaum. Banal ist es jedoch nicht, im Gegenteil. Der Zauber liegt im Detail: In den dünnen Stützen im Grenzbereich der statischen Vernunft, die das nach allen Seiten verglaste Foyer fast körperlos erscheinen lassen. In der erst auf den zweiten Blick erkennbaren leichten Biegung der Fassaden. "Diese Krümmung nimmt die Topografie des Hügels auf - früher waren hier außerdem Eisenbahnschienen, die ebenfalls in Kurven verliefen", erklärt Kazujo Sejima.
Die große Meisterschaft der Japaner zeigt sich darin, eine Fülle von poetisch angereicherten kleinen Momenten zu schaffen. So wechselt die matt spiegelnde Außenfassade ihr Gesicht permanent mit dem Wetter, bei wolkenverhangenem Himmel scheint sie sich ganz nach oben aufzulösen. " Das Licht in dieser Gegend ist sehr besonders, sehr diffus und weich. Wir wollten die Schönheit dieses Lichts mit dem Ort, mit dem Museum und den Kunstwerken verbinden", erklärt Kazujo Sejima.
So wird selbst die vermeintlich triste Industrielandschaft unter verhangener Wolkendecke zu einem altmeisterlichen Breitwandgemälde. Wenn sich die Besucher, so wie am Eröffnungstag, trotz aller Hektik immer wieder versonnen in der Betrachtung der Regentropfen auf der Glasfassade verlieren, ist die banalité lumineuse wohl geglückt.
Das tut sie ebenso auf der pragmatischen Ebene: Sie soll den Einheimischen den Zugang zur Kunst so leicht wie möglich machen. In Zusammenarbeit mit der Landschaftsarchitektin Cathérine Mosbach wurde der Museumsbau daher eng mit dem 20 Hektar großen Park, in dessen Mitte er liegt, verflochten. Keine monumentale Pilgerstätte soll er sein, sondern Teil eines Spaziergangs.
So winden sich von allen Seiten Zickzackwege in Richtung Eingang, dazwischen öffnen sich kleine Abgründe schwarzen Asphalts auf: Erinnerung an die Schächte, deren Einstiege sich hier früher befanden. Noch führen die Wege durch braune Erde, im Frühjahr soll die Vegetation hier so hoch wachsen, dass sie den Museumsbau fast verschwinden lässt.
Das Wesentliche, nämlich die Kunst selbst, scheint so fast aus dem Blickfeld zu geraten. Doch auch hier drehten die Architekten an subtilen Schrauben. Das Herzstück der Louvre-Filiale, die "Galerie du temps", in der 205 ausgewählte Stücke aus der riesigen Sammlung in chronologischer Reihe platziert sind, wurde auch innen matt verspiegelt: eine doppelte Familienaufstellung von ägyptischen Statuen bis zum Neoklassizismus des 19. Jahrhunderts.
Natürlich begnügt man sich seitens des Louvre nicht mit Passanten aus der Nachbarschaft. Stolze 500.000 Besucher pro Jahr werden erwartet. Als Köder hat man eines der berühmtesten Werke des Pariser Haupthauses für zwei Jahre nach Lens ausgelagert: die halbbarbusige Fahnenschwingerin aus Eugène Delacroix' Die Freiheit führt das Volk, die hier einen passend dominanten Aufenthaltsort an der Stirnseite der Galerie du temps bekommen hat.
Kaum 200 Meter von Delacroix' revolutionsikonischem Großwerk entfernt, in der Bar Tabac neben der Friterie Cathy gegenüber vom Haupteingang des Museums, herrscht gelassene Vorfreude. "Doch, ein sehr schönes Gebäude!" , urteilen Mutter und Sohn strahlend hinter den Zapfhähnen mit belgischem Bier, und die stillen Gäste nicken zustimmend. Kein Zweifel: Der Louvre ist in Lens längst angekommen und hat dank der Kunst des Verschwindens schon jetzt eine selbstverständliche Präsenz.
(erschienen in: Der Standard, 15./16.12.2012)