Das Wunder von Camden: Interview mit Neave Brown

Neave Brown ist der einzige Architekt, dessen Wohnsiedlungen aus der Nachkriegszeit in Großbritannien alle unter Denkmalschutz stehen. Jetzt wurde er für sein Lebenswerk ausgezeichnet

London in den 1960er-Jahren. Nicht nur eine Zeit des kulturellen Aufbruchs in der Popkultur, auch die Architektur begann, im Takt der Euphorie und Utopie zu swingen. Der Wohlfahrtsstaat erlebte eine Blüte, öffentliche Bauten und Wohnsiedlungen für alle schienen das Klassensystem der viktorianischen Slums hinter sich zu lassen. Nirgendwo war der Wohnbau so progressiv wie im Londoner Bezirk Camden, wo der leitende Architekt Sydney Cook eine Schar junger, ehrgeiziger Kollegen versammelte.

Der bekannteste unter ihnen, Neave Brown, sollte die vielleicht beste britische Wohnsiedlung der Nachkriegszeit entwerfen: das Alexandra Road Estate. Über 300 Meter lang, fast komplett aus Sichtbeton. 520 Wohnungen, Gemeinschaftseinrichtungen, Park, Spielplatz, Kindergarten. Auf den ersten Blick ein brutalistisches Monument, auf den zweiten ein bis ins Detail geplantes Stück Stadt mit einer autofreien Straße als Zentrum. Doch schon bei der Fertigstellung 1978 hatten sich die Zeiten geändert. Der Brutalismus galt als inhuman, Alexandra Road jahrelang und zu Unrecht als gefährlich, und es wurde zum beliebten Drehort für Krimiserien, was den Ruf nicht gerade verbesserte. Die Bewohner jedoch lieben den Ort bis heute. 1993 wurde das Alexandra Road Estate unter Denkmalschutz gestellt.

Neave Brown hatte zu diesem Zeitpunkt seine Zelte längst abgebrochen. Nachdem Margaret Thatcher dem britischen sozialen Wohnbau den Todesstoß versetzt hatte, baute er in den Niederlanden. So reagierte die britische Architektenschaft gleichzeitig überrascht und erleichtert, als Neave Brown, inzwischen 88, vor zwei Wochen für sein Lebenswerk mit der Goldmedaille des Royal Institute of British Architects (RIBA) ausgezeichnet wurde, der seit 1848 verliehenen höchsten architektonischen Ehre des Inselreichs. Er darf sich als einer der wenigen Wohnbauarchitekten in das illustre Pantheon von Frank Lloyd Wright, Le Corbusier, Norman Foster, Peter Zumthor und Zaha Hadid einreihen. "Die Auszeichnung kommt völlig unerwartet und ist überwältigend", freute sich Brown. "Eine Anerkennung der Wichtigkeit meiner Architektur, ihrer Qualität und ihrer dringenden sozialen Relevanz in der heutigen Zeit. Großartig!" Dass Neave Brown auch heute noch stolz auf sein Werk ist, zeigt auch die Tatsache, dass er selbst darin wohnt: zuerst in einem Reihenhaus der Siedlung Winscombe Street, heute in der Siedlung Fleet Road in Camden. DER STANDARD besuchte ihn dort.

Der Architekt John Winter nannte die von Sydney Cook geprägte Architektur-Ära im Camden der 60er- und 70er-Jahre einen "magischen Moment für den englischen Wohnbau". Wie wurden Sie Teil dieser Magie?

Brown: Ich hatte meine erste Siedlung fertiggestellt, und Cook war gerade Stadtarchitekt in Camden geworden. Seine Leute schauten sich meinen Bau an und fanden ihn gut. Also bekam ich einen Job. Es war die beste Entscheidung meines Lebens. Sydney Cook hat uns junge Architekten in jeder Hinsicht unterstützt. Es war eine bemerkenswerte Ära.

Die moderne Architektur hatte und hat es nicht immer leicht in Großbritannien. Was hat Sie angetrieben, das zu ändern?

Brown: Als ich kurz nach dem 2. Weltkrieg nach England kam, war die Moderne der britischen Kultur fremd. Gebaute moderne Architektur wie in Italien, den Niederlanden oder Deutschland gab es kaum. Viele dachten, wir würden traditionell britisch weitermachen. Wir jungen Architekten wollten das überhaupt nicht.

Sie und ihre Kollegen haben damals an der Architectural Association (AA) studiert.

Brown: Die AA war die einzige moderne Architekturschule in England. Wir liebten Alvar Aalto, und Le Corbusier war unausweichlich. Doch er wollte Städte komplett eliminieren und durch etwas Neues ersetzen. Das gefiel uns nicht. Wir liebten Corbusiers Bauten, aber seine Ideen zur Stadt verabscheuten wir. Stattdessen wollten wir die moderne Architektur ohne Kompromisse der Normalität so anpassen, dass die Kultur und die Bevölkerung der Stadt davon profitiert. Das war unsere große Idee.

Sie haben sich von Anfang an von den Wohntürmen und Wohnmaschinen abgewandt.

Brown: Das sieht man auch an Alexandra Road. Uns ging es nicht um ein Bauwerk als Ikone, sondern als Programm für eine neue, freiere Gesellschaft. Noch dazu innerhalb des sozialen Wohnbauprogramms. Das heißt, wir bauten für die Unterprivilegierten, aber wir sahen das nicht als sozialen Wohnbau für eine Klasse. Sondern einfach als Wohnen. Und mehr als das: Alexandra Road ist ein Stück Stadt. Dafür haben wir jahrelang jedes Detail entworfen, bis es so gut war, dass es kaum mehr auffiel. Die Kunst ist, es so gut zu machen, dass es aussieht, als wäre es einfach so passiert.

Alexandra Road wurde später dafür kritisiert, dass es zu teuer gewesen sei. Es gab eine öffentliche Untersuchung, geleitet von Ken Livingstone, der 2000 Bürgermeister von London wurde.

Brown: Die Stimmung hatte sich Ende der 1970er geändert. Die neuen Leute in der Stadtbehörde hassten Alexandra Road. Wir waren permanent am Kämpfen. Livingstone hat dann die Untersuchung angesetzt, um die Schuld auf die Architekten abzuwälzen. Am Schluss gab die Kommission dem Bezirk Camden die Schuld. Der Bezirk hat sich nie davon erholt. Ich mich auch nicht. Ich konnte nie wieder in England bauen. Es war emotional traumatisierend.

Seit diesem Jahr – nach dem Brand im Grenfell Tower – hat auch London ein neues Wohnbautrauma. Haben Sie ein Rezept gegen die Wohnungskrise?

Brown: Wir müssen nach dem Feuer ganz neu anfangen. Wir müssen vor allem den einen katastrophalen Fehler vermeiden, den wir jahrhundertelang gemacht haben.

Welchen?

Brown: Der Wohnbau ist in England seit dem 17. Jahrhundert geregelt. Aber es gab nie ein Programm oder Budget für den Erhalt der Gebäude, wie in den kontinentaleuropäischen Ländern. Von denen müssen wir lernen und ein solches Programm aufstellen.

Ist das mit privaten Investoren machbar?

Brown: Nein. Die sind für nichts zu gebrauchen, was den öffentlichen Bedarf angeht. Das hat nichts mit Sozialismus zu tun, das ist einfach Realität. Heute unterscheidet man die "deserving poor" von den Armen, die anscheinend an ihrem Schicksal selbst schuld sind. Unfassbar! Dabei ist die Gesellschaft schuld daran. Sie wurden in Gettos gesteckt. Wir haben damals Wohnbau mit dem Ziel betrieben, sie zu integrieren.

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Neave Brown, geb. 1929 in Utica, New York, studierte Architektur in London und war dann im Wohnbau tätig, zuerst in London, später in den Niederlanden. Mit 73 beendete er seine Architekturkarriere, studierte Bildende Kunst und widmet sich seither der Malerei. Im Oktober wurde ihm die RIBA Gold Medal, die höchste Auszeichnung der britischen Architektur, verliehen.

 

Erschienen in: 
Der Standard, 14./15.10.2017