Das Werben mit dem Wow

Architektur im Netz bedeutet heute vor allem: Schwimmen mit oder gegen die Bilderflut. Eine Bestandsaufnahme

2009 wurde Antonino Cardillo vom Trendmagazin Wallpaper unter die 30 wichtigsten Nachwuchsarchitekten gereiht. Dumm nur, dass sich später herausstellte, dass der junge Italiener bislang so gut wie nichts gebaut hatte. Denn die luxuriösen Wohnlandschaften, von denen Magazine wie H.O.M.E. und Build schwärmten, waren allesamt Renderings, also digitale Visualisierungen, scheinbar Computerspielen entsprungen und in unscharf mediterrane Umgebung implantiert. Cardillo quittierte es mit treuherzigem Achselzucken: In Italien sei es eben für junge Absolventen praktisch unmöglich, an Aufträge zu kommen. Und sei die visionärste Architektur nicht schon immer auch virtuell gewesen?

Was vor einigen Jahren noch für Empörung sorgte, ist inzwischen längst Alltag. In der Flut von Architekturportalen und Blogs im Netz verschwimmt die Grenze zwischen gebauter und ungebauter Architektur immer mehr. Realität lässt sich bestens simulieren, und das mit immer besser werdenden virtuellen Techniken. Wenn ein Bild im Internet angeklickt oder weggeklickt werden soll, zählt oft nur der sogenannte "Wow-Content". Aufmerksamkeit ist die wichtigste Währung. Innerhalb weniger Sekunden wird entschieden. Was ins Auge springt, gewinnt.

Nicht selten sind es junge, gut ausgebildete Architekten abseits der gängigen Designmetropolen, die ihren Ideen ohne große Hürden eine gewisse Öffentlichkeit verschaffen wollen. Einer von ihnen ist der 25-jährige ukrainische Architekt Igor Sirotov, dessen geschmackvoll möblierte Innenräume und in anthrazitfarbener, fast schwarzer Herr der Ringe-Düsternis gehaltene Villen am Schwarzmeerufer in den Blogs reihenweise "Awesome"-Kommentare ernten. Erst auf den zweiten, sehr genauen Blick erkennt man: sehr schön, aber auch sehr fiktiv. Immerhin, vier Projekte seien inzwischen realisiert, wie Sirotov auf Anfrage des STANDARD versichert.

Das Angebot an Architekturportalen ist inzwischen nahezu unübersichtlich geworden. Während Portale wie Archinect oder das österreichische Nextroom zu klugen und hilfreichen Informationsfiltern geworden sind, boomen vor allem Seiten wie Tumblr, die reine Bilderhalden sind. 60er-Jahre-Brutalismus hier, Wolkenkratzer dort, ein nie endender Wasserfall aus Wow-Content. Eines der ersten und erfolgreichsten Portale, das in Mailand ansässige Designboom, ist seit 1999 im Netz und zählt heute 33.000 Artikel, vom Maserati über lustige USB-Sticks bis hin zu Designerlampen und Zaha Hadids neuestem Stadion. Und täglich kommen zehn oder mehr brandneue Berichte dazu, die Hälfte davon vom eigenen Team recherchiert.

Ein Stammgast bei Designboom mit bisher 69 Einträgen ist Jürgen Mayer H., dessen Bauten wie die riesige hölzerne Pilzlandschaft Metropol Parasol in Sevilla oder die fast schon karikaturhaften Tankstellen und Grenzhäuser in Georgien zu den meistpublizierten Projekten der letzten zehn Jahre gehören. An Aufmerksamkeit und Wow-Content mangelt es hier nicht. Die Häuser des Berliner Architekten sind gleichzeitig ihre eigenen Logos und dank wiederkehrender Elemente wie abgerundeter Ecken schnell als Markenzeichen erkennbar.

Jürgen Mayer H. sieht die Entwicklung positiv: "Die Wahrnehmung und Verarbeitung von Information hat sich entscheidend geändert. Der Informationsfluss ist viel zeitnaher und unmittelbarer als bei üblichen Architekturpräsentationen. Das Internet ist wie ein Teaser oder Trailer, ein geeignetes Medium, um rasch einen Überblick über Architekturtendenzen zu bekommen. Es entstehen spielerische Kommentare, Interessengruppen und immer wieder neue Blogs. Architektur wird dadurch persönlicher."

Das Internet als Spielwiese haben längst auch österreichische Architekten entdeckt. Ein Büro, das seit langem stark im Netz präsent ist, ist das Wiener Team Alleswirdgut (awg), das neben seiner ständig aktualisierten Website auch auf Twitter und Facebook aktiv ist. Letzteres diene aber mehr dem persönlichen Zugang zur Architektur als dem Werben um Auftraggeber, sagt Herwig Spiegl von awg, der den Wow-Content gut kennt: "Man klickt so schnell durch, dass man eher hängenbleibt, wenn einen etwas anschreit." Die Chance, auf Interessenten zu stoßen, sei zwar größer, wenn der Leser aber hunderttausenden Architekten gegenüberstehe, gleiche sich das jedoch wieder aus.

Mehr noch: Auf Bildschirm-Ebene ist die Gleichwertigkeit von Gebautem und Ungebautem sogar von Vorteil. So war man bei awg verständlicherweise darüber enttäuscht, dass ihr Hochhausentwurf, ein Wettbewerbsbeitrag für die Neubebauung eines Grundstücks in der Nähe des Wiener Rathauses, vor kurzem nur den fünften Rang belegte. Nachdem das awg-Projekt jedoch deutlich einprägsamer wirkte als der recht brave Wettbewerbssieger, entwickelte es rasch ein virtuelles Eigenleben im Netz. "Wir wollten nicht, dass unser Projekt einfach in der Schublade verschwindet", so Spiegl. "Durch die vielen Publikationen im Netz ist daraus eine sehr breite Diskussion über das Thema Architekturwettbewerbe entstanden."

Ungebaute Ikonen

Das weltweite Netz - ein kleines Trostpflaster also für den enormen kreativen und finanziellen Aufwand, den Architekten im Wettbewerbswesen betreiben? Nebenbei kennt die Architekturgeschichte reichlich ungebaute Entwürfe, denen dank ihrer visionären Ideen und ihrer Bildsprache ein langes Leben beschieden war, wie etwa Adolf Loos' Verlagshaus-Entwurf für die Chicago Tribune in Form einer dorischen Säule oder Ludwig Mies van der Rohes kristallines Hochhaus, das beim Wettbewerb für einen Büroneubau in der Berliner Friedrichstraße 1921 sang- und klanglos unterging und heute als einflussreiche moderne Ikone gilt.

Doch nicht jeder Architekt springt so lustvoll in die Bilderflut. Schweigsamere Baukünstler wie etwa Peter Zumthor, der die physische Präsenz der Architektur - "Hand aufs Holz" - als maßgeblich ansieht, verzichten komplett auf einen virtuellen Auftritt im Internet. Auch seine Schweizer Kollegen Herzog & de Meuron leisteten sich ihre erste Website erst 2011, als sie bereits auf mehrere Hundert Projekte zurückblickten und die Elbphilharmonie in Hamburg langsam in die Höhe wuchs.

Eine solche Verweigerungshaltung könnten sich eben auch nur Stars vom Status eines Zumthor leisten, meint Herwig Spiegl. "Wir hätten nichts dagegen, so berühmt zu sein, dass wir keine Website brauchen! Doch für junge Büros ist die virtuelle Architektur eine Visitenkarte und oft die einzige Möglichkeit, nach außen zu treten." Und wenn die Bilderflut junge Talente aus entlegenen, globalen Ecken ans weltweit sichtbare Licht spült, kann sich die Architekturgeschichte nur freuen.

Erschienen in: 
Der Standard, 8./9.3.2014