Die chinesische Region Songyang versucht, die Abwanderung zu stoppen. Auf den Dörfern sucht ein radikal urbanisiertes Land seine verlorene Seele
Über Songyang lässt sich eine Fülle von Geschichten erzählen. Zum Beispiel die Geschichte einer kleinen Stadt in der Provinz Zhejiang, 460 Kilometer südlich von Schanghai, inmitten einer Landschaft aus breiten Flüssen, schroffen Felsen und Teefeldern im Morgennebel, in ganz China bekannt für ihre pittoreske Schönheit.
Die Geschichte von rund 400 Dörfern, in denen nur noch Alte und Kinder leben oder die schon ganz entvölkert sind. Die Schattenseite der globalen Verstädterung, die sich in China besonders rapide entwickelte. Im Jahr 2016 lebten bereits 773 Millionen Chinesen in Städten und 589 Millionen auf dem Land.
Songyang ist auch die Geschichte eines Lokalpolitikers, der diesen Trend aufhalten will: Wang Jun, ein junger, ehrgeiziger und intelligenter Parteisekretär, der seine Heimat als "den letzten geheimen Garten" bezeichnet und mit einer Rückbesinnung auf regionale Werte die verschlafene Landschaft wieder zum Leben erwecken möchte – um den Bevölkerungsschwund aufzuhalten und mit sanftem Tourismus die Wirtschaft wieder anzukurbeln.
Seine Geschichte ist eng verzahnt mit der von Xu Tiantian, die in Peking ihr Büro DnA Design and Architecture führt. 2015 fand sie eher zufällig den Weg ins abgelegene Songyang. Seitdem hat sie eine Vielzahl von Bauten in der Region realisiert. Eine kleine Fabrik zur Zuckeraufbereitung im Dorf Xing, das Gemeinschaftshaus im Dorf Pingtian, ein Teehaus, einen Bambuspavillon, ein Museum für die Kultur des Hakka-Volks im Dorf Shicang und eine Brücke über den Songyin-Fluss zwischen den Dörfern Shimen und Shimenyu. Geplant und gebaut gemeinsam mit der – zuerst noch skeptischen – Bevölkerung und mit lokalen Handwerkern.
Eine Architektur, die das Bestehende nicht in Grund und Boden planiert, sondern wie Akupunktur funktioniert. Eine Art des regionalen Bauens, die selten ist in einem Land, in dem Bautraditionen meist in Form von disneyfizierten Karikaturen reproduziert werden. Eine Wiederentdeckung von Materialien und Techniken, wie sie auch Pritzker-Preisträger Wang Shu praktiziert. Archaisch ging es auf der Baustelle jedoch keineswegs zu, erklärt Xu Tiantian. Da die junge Mutter nicht ständig aus Peking anreisen konnte, wurde die Bauleitung mit der in China omnipräsenten App Wechat erledigt. "Die Bauern haben alle Smartphones, das hat sehr gut funktioniert," sagt sie.
Die Geschichte von Songyang – das ist auch "Rural Moves – The Songyang Story", der Titel einer Ausstellung, die im Frühjahr im Aedes-Architekturforum Berlin zu sehen war. Dort wurden die Bauten von Xu Tiantian erstmals im Westen präsentiert, kurz darauf waren sie auf der Architekturbiennale Venedig zu sehen, im Frühjahr 2019 macht die Ausstellung im Architekturzentrum Wien (Az W) Station. "Die Stadt ist ohne das Land nicht diskutierbar", so Aedes-Direktorin Kristin Feireiss. "Das Land wurde viel zu lang als reine Ressource für die Stadt gesehen. Das ändert sich – wir beobachten heute weltweit ein neues ländliches Selbstvertrauen."
Also beschloss man, sich just in Songyang mit weltweiten Experten über diesen Versuch eines neuen Gleichgewichts auszutauschen. Anfang November luden Aedes und die Region Songyang zur dreitägigen Konferenz "Regions on the Rise." Auch Vertreter der Regierung waren zugegen – in Peking beobachtet man das Experiment von Wang Jun mit erhöhter Aufmerksamkeit.
Denn die Geschichte von Songyang ist auch die Geschichte eines Landes, das nach Jahrzehnten eines wilden Wachstumsrausches die Ahnung befällt, dass es seine Seele verloren hat. "Die alten Dörfer sind das Herz der chinesischen Kultur", bekräftigte der Parteifunktionär Liu Yuzhu. Deswegen habe die Regierung Initiativen gestartet, um diese Dörfer zu schützen, bis Oktober 2018 seien 1,3 Milliarden Yuan in dieses Strukturprogramm für den ländlichen Raum investiert worden. Der Wunsch nach emotionaler Bindung an die eigene Identität paart sich mit harten Fakten: Chinas Flächen für landwirtschaftliche Produktion sind durch die Urbanisierung an einem kritischen Minimum angelangt – es geht schlicht ums wirtschaftliche Überleben. Also hofft man, das Erfolgsmodell Songyang als Prototyp reproduzieren zu können.
Ein Wunsch, der auf der Konferenz auf Skepsis traf. Songyang sei mit seiner noch relativ unberührten Landschaft und den Bauern, die am überregional berühmten grünen Tee gut verdienen, ein privilegierter Sonderfall, urteilten Wirtschaftsprofessoren und Architekten. Ins ostchinesische Flachland mit seinen Autobahnen, Tierfabriken und verseuchten Böden und Gewässern wird sich nie ein Tourist verirren.
Wird die Geschichte von Songyang eine Erfolgsstory? Alles deutet darauf hin. In den sorgfältig restaurierten Gassen der Altstadt warten die ersten Vintageläden und gediegenen Edelteeshops auf zahlungskräftige Touristen. In den Dörfern eröffnen findige Kleinunternehmer die ersten Ferienhäuser in alten Gemäuern. Die neue Autobahn nach Songyang ist schon fertig, die Hochgeschwindigkeitsbahnstrecke ist in Bau, ein Regionalflughafen ebenfalls.
Epilog: ein Samstagabend in der Zehn-Millionen-Stadt Hangzhou, drei Stunden nördlich von Songyang. Tausende von schick gekleideten Jungzwanzigern strömen durch die Straßen zwischen den Flagship-Stores von Gucci, Apple, Adidas und Versace, Einkaufstaschen in beiden Händen. Ob sich Chinas konsumfreudige Jugend dauerhaft wieder zurück aufs Dorf locken lässt? Eine Geschichte mit offenem Ende.