Beamtenbox statt Heldenepos

Das Ausweichquartier des Parlaments am Heldenplatz war lange angekündigt. Kaum nimmt es Gestalt an, reden manche plötzlich von Verschandelung. Sind die temporären Holzbauten nun ein architektonisches Glanzstück? Ist der Heldenplatz der richtige Ort für sie? Und wie soll sich Demokratie heute in der Stadt überhaupt präsentieren?

Um 20 Uhr am Abend des 9.November 1989 wurde die 174.Sitzung des deutschen Bundestages unterbrochen, als die Nachricht von der Grenzöffnung aus Berlin eintraf. Die Abgeordneten aller Fraktionen erhoben sich spontan und stimmten gemeinsam die Nationalhymne an. Soweit, so bekannt. Nahezu vergessen ist jedoch, dass sich dieses historische Geschehnis in einem Provisorium abspielte. Von September 1986 bis Oktober 1992 tagte der Bundestag im ehemaligen Bonner Wasserwerk, während nebenan der von Architekt Günter Behnisch entworfene neue Plenarsaal entstand. Der Würde des Moments tat die temporäre Unterbringung an diesem 9.November keinen Abbruch.

Ironischerweise war es auch der Mauerfall, der den nach langwieriger Entscheidungsfindung errichteten, 256 Millionen Mark teuren Behnisch-Bau wenig später selbst zum Provisorium degradierte. Als dieser 1992 bezogen wurde, hatte das Parlament längst den Umzug nach Berlin beschlossen, Ende 1999 tagte es zum letzten Mal in Bonn. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Neubau nur ein paar Monate länger seine staatstragende Funktion innegehabt als das spartanisch hergerichtete Wasserwerk.

Dass das Parlament das vom Grundsatz der Transparenz, Offenheit und Hierarchievermeidung getragene, trotz seiner Masse fast verspielt wirkende, großzügig verglaste Gebäude gegen die düstere imperiale Hülle des ehemaligen Reichtstags eintauschte, ist eine heute ebenfalls fast vergessene Ironie. Die Frage, ob die bauliche Hülle einer demokratischen Institution auch demokratisch aussehen soll, und ob es so etwas wie demokratische Architektur überhaupt gibt, bleibt jedoch aktuell. Zur Zeit wird sie in Wien recht heftig diskutiert.

"Des is für die dummen Politiker", grummelt ein älterer Wiener zu seiner Gattin und geht kopfschüttelnd weiter Richtung Ballhausplatz. Zwei junge italienische Touristinnen bleiben kurz stehen. "Fancy container!" konstatiert die eine, und beide lachen. Eine Asiatin posiert auf dem weiten Asphalt für ihren Freund vor der Kamera, sie probieren mehrere Blickwinkel, aber die Baustelle im Hintergrund lässt sich nicht ausblenden. Sie drehen sich um 180 Grad und lichtet sie zufrieden vor der Kulisse der Neuen Hofburg ab. Ein paar Hundert Meter weiter, neben dem Palmenhaus im Burggarten, konstatiert ein Ehepaar fassungslos: "Das passt ja überhaupt nicht hierher!"

Die "fancy container", die zur Zeit mitten auf dem Heldenplatz aufgestellt werden, sind so etwas wie das Äquivalent des Bonner Wasserwerks: Ein parlamentarisches Provisorium für die Zeit der Sanierung des Ringstraßengebäudes. Für andere sind sie ein Sakrileg: Die Kronen-Zeitung schäumte, man müsse diese "Verschandelung" sofort entfernen, zu teuer sei sie obendrein, und nur für "die Bonzen". Die kognitive Dissonanz, den Parlamentariern gleichzeitig Bonzentum und mangelnde Anpassung an den kaiserlichen Heldenplatz-Prunk vorzuwerfen, gelang dem Boulevardblatt spielend. Dass die Bauten erst halb fertig und die Holzfassaden noch nicht montiert sind, schien den Willen zur Erregung nicht zu stören.

Dabei werden die Abgeordneten selbst gar nicht in die Provisorien ziehen. Sie werden sich tatsächlich im imperialen Ambiente versammeln, nämlich im Redoutensaal der Hofburg. Die zwei dreigeschossigen Kisten auf dem Heldenplatz und die dritte im Bibliothekshof neben dem Palmenhaus dienen für die Mitarbeiter des Parlaments. Gewählt wurde der Ort aufgrund seiner Nähe zum temporären Plenarsaal und den bestehenden Büros in der Umgebung - etwa im Palais Epstein - die nicht umziehen müssen.

Dabei hatte sich der Standort keineswegs von Anfang an aufgedrängt. Im Februar 2011 hatte das Parlament beschlossen, den Betrieb während der Sanierung des Hohen Hauses komplett abzusiedeln. Als Kandidat für den Ersatzstandort wurde damals die ehemalige Wirtschaftsuniversität (WU) im 9.Bezirk gehandelt, es gab Verhandlungen mit der Eigentümerin, der Bundesimmobiliengesellschaft (BIG). "Laut mehrerer Gutachten wurde das Gebäude räumlich als geeignet und der technische Zustand grundsätzlich als sehr gut eingestuft; die Gutachten zeigten allerdings auch die Notwendigkeit umfangreicher Instandhaltungsarbeiten auf", konstatierte der Rechnungshofbericht im Jahr 2012. Im Juli 2012 verlautbarte die damalige Nationalratspräsidentin Barbara Prammer, es gebe „ganz konkrete Gespräche“ mit der BIG.

Ein Jahr später jedoch war die WU wieder aus dem Rennen. Die Sanierung eines asbesthaltigen Baus, dessen Zukunft nach Ende des Parlamentsprovisoriums unsicher war, sei zu teuer, außerdem sei die WU so groß, dass man alle Parlamentsbüros dahin umsiedeln und die bisherigen Quartiere aufgeben müsse. Die BIG war über die Absage mäßig glücklich, wurde kolportiert. Anfang 2014 schließlich erfolgte der Beschluss zur Umsiedlung in die Hofburg mit einem Budget von rund 352 Millionen Euro für die Sanierung des Theophil-Hansen-Baus und 51,4 Millionen Euro für die Übersiedlung.

Das Bieterverfahren mit 18 Einreichungen gewann 2016 die STRABAG mit dem Konzept von Lukas Lang Building Technologies, die drei Pavillons aus vorgefertigten Beton- und Holzelementen zu errichten, die nach dem Ende des Ausweichquartiers wiederverwendet werden können. Sprich: Das Parlamentsbüro kann danach zur Schule oder zum Kindergarten werden. Diese Rundumkompatibilität erklärt auch das sachlich-neutrale Erscheinungsbild der Pavillons. Sie könnten im Grunde überall stehen. Ein Parlamentsbüro ist schließlich einfach vor allem ein Büro. Dennoch sind die Planer verständlicherweise stolz auf das Prestige: „Wir können uns keinen schöneren Ort, an dem unsere Gebäude errichtet werden, als den Heldenplatz vorstellen“, erklärte Christian Leitner, Geschäftsführer von Lukas Lang Building Technologies.

Zwar machen die Pavillons kaum architektonische Zugeständnisse an den Heldenplatz, doch könnte man einwenden, dass dies nicht die Aufgabe von Provisorien ist: Karl Schwanzers Pavillon auf der Weltausstellung 1958 war ebenso universal verwendbar und hat heute als 21er-Haus einen permanenten Platz im Stadtbild. Oder ist der Kontrast vielleicht sogar die Stärke der Beamten-Boxen? Eine Ausstellung österreichischer Holzbau-Expertise an einem der prominentesten Orte der Republik ist so etwas wie eine westösterreichische Architekturinvasion. Schließlich gelten Holzbauten in Wien immer noch Fremdkörper, hier herrschen seit Jahrhunderten Fassaden aus  Putz und Stein. Doch das ändert sich langsam: Immer wieder werden mehrgeschossige Wohnbauten aus Holz errichtet, für das mit viel PR-Aufwand begleitete Holzhochhaus in der Seestadt Aspern erfolgte im vorigen Oktober der Spatenstich.

Verglichen mit solchen Experimenten kommen die "fancy container" eher als sachliches Baukastensystem daher. Die selbstbewusste Präsenz des inzwischen abgebauten Bahnorama-Turms neben dem Hauptbahnhof mit seiner auf 66 Metern Höhe kletternden Holzkonstruktion sucht man hier vergebens. Hätte man sich für drei Jahre vielleicht etwas mehr Mut gönnen können? Der Heldenplatz hätte es sicher ausgehalten.

Schließlich war dieser schon immer eine Bühne für alle Arten temporärer Ereignisse, ob Sportevents, Bundesheer-Panzerbestaunungen oder rustikal-trachtenlastige Bundesländerfeste. Letztendlich ist auch der Heldenplatz keineswegs ein perfektes Gesamtkunstwerk, sondern eine Ansammlung des Unfertigen: Die Neue Hofburg ein Torso, der sich zur Hälfte vor den alten Burgtrakt schiebt. Die 1870 von Gottfried Semper geplante Verdopplung der Neuen Burg zu einem gigantischen Kaiserforum samt Torbauten quer über die Ringstraße wurde nie realisiert. Auch der von mehreren Stimmen vorgebrachte Vorschlag, für das Haus der Geschichte einen Neubau zwischen Burgtor und Volksgarten zu errichten, wurde inzwischen in den Ordner "ungebautes Wien" verschoben, stattdessen wird es jetzt in der Neuen Burg versteckt. Addiert man dazu die Historie mit Hitlerbalkon und der Hysterie um Thomas Bernhards gleichnamiges Theaterstück könnte man diagnostizieren: Der Heldenplatz ist ein Ort mit permanenter Identitätskrise.

Die kontroversen Kisten mögen architektonisch keine Glanzlichter sein, aber dafür endlich eine Gelegenheit, zumindest drei Jahre lang über den Heldenplatz nachzudenken. Schließlich stehen sie sowohl genau in der Symmetrieachse von Hofburg und Reiterstandbild wie in der Längsachse des Naturhistorischen Museums, wie ein leises Echo des Kaiserforums. Ist das demokratische Provisorium also näher an der kaiserlichen Hauptstadt, als man denkt? Schließlich markiert es auch die bisher irgendwo zwischen Hunderlwiese und Blumenrabattln verlaufende Grenze zwischen Heldenplatz und Volksgarten. Auch der Bibliothekshof, bisher eine versteckte Sackgasse mit im Hofburg-Labyrinth, in dem Alte Hofburg, Neue Burg, Albertina und Palmenhaus ziemlich unharmonisch kollidieren, durch ein lustloses Rasenquadrat in der Mitte eher schlecht als recht zusammengehalten, bekommt endlich eine Funktion.

Erich Raith, Professor für Städtebau an der TU Wien, hat sich bereits seit langem analytisch mit der Geschichte der Ringstraße beschäftigt. Er bedauert im FALTER-Gespräch bei den temporären Bauten vor allem die ungenutzte Möglichkeit: "Es wäre spannend gewesen, hier ein Provisorium als 1:1-Modell für zukünftige bauliche Ideen aufzustellen. Diese Chance hat man leider nicht wahrgenommen. Diese vorauseilende Resignation ist auch eine Konsequenz aus der Welterbe-Diskussion: Niemand traut sich mehr etwas. Alles unsichtbar in der alten Hofburg zu verstecken, finde ich katastrophal."

Was ist nun eigentlich aus Sicht des Städtebauers der Heldenplatz, und wo hört er auf?: "Interessant finde ich vor allem, dass die Konkurrenz zwischen dem zur Ringstraßenzeit entstandenen Bürgerforum mit Rathaus, Universität und Burgtheater einerseits und dem imperial und klerikal-konservativ geprägten Heldenplatz bis heute gehalten hat. Das einzige Event, das diese beiden Orte bisher miteinander verbunden hat, war die Fußball-Europameisterschaft 2008." Hat also die Aufregung um die Provisorien ihren tiefenpsychologischen Grund in einer Grenzübertretung der bürgerlichen Demokratie auf einen Platz, auf dem sie nach Ansicht mancher nichts zu suchen hat?

Wenn es um die Kernfrage geht, wie Demokratie sich in der Stadt darstellt, sind die Provisorien auf dem Heldenplatz mit ihrer maximalen Sichtbarkeit besser geeignet als es die schmutzigweiße Gebirgsfestung der alten WU gewesen wäre. Bevor wieder im alten Ringstraßenbau verschwindet, könnte man die Zeit der Provisorien nutzen, um darüber nachzudenken. Wenn repräsentative Demokratie in einem Wasserwerk funktioniert, tut sie es vielleicht auch in einem fancy Container. Oder auch ganz anders.

Zuletzt: Wer sich über die Verschandelung des Heldenplatzes durch Holzhütten erregt, sei ein dezenter Hinweis gegeben, dass wenige Meter weiter jedes Jahr temporäre Holzhütten direkt an der Ringstraße stehen, über die sich seltsamerweise niemand aufregt. Der seit 40 Jahren bestehende Christkindlmarkt vor dem Rathaus bringt es in Summe nämlich schon auf immerhin dreieinhalb Jahre Standzeit im heiligen Weltkulturerbe, und das mit eher bescheidener architektonischer Qualität.

 

Erschienen in: 
Falter 4/2017, 25.01.2017