Eine Ausstellung in Dornbirn zeigt den pragmatischen Surrealismus des hochproduktiven flämischen Architektentrios De Vylder Vinck Taillieu
Die Belgier, behauptet ein populäres Sprichwort, würden mit einem Ziegelstein im Magen geboren. Was weniger auf eine Vorliebe für schwerverdauliche Mahlzeiten als einen Drang zum Aufbauen und Besitzen von Eigenheimen in diesem Land anspielt. Dank der sehr liberalen Bauvorschriften mitunter eine Lizenz zum Chaos: Das Weichbild aus wild durcheinandergewürfelt in der Landschaft herumstehenden Häusern und Häuserzeilen, gerne mit Fliesen und Klinkern in Nikotingelb und Schmutzweiß verkleidet, hat schon manch einen Belgienurlauber verstört.
Eine Spielwiese für schrullige Selbstbauer - aber ein Mekka für Architektur? Bei Mode und Design ist Belgien seit den 1980er-Jahren avantgardistisch vorne dabei, bei den Baumeistern fällt das Land in der internationalen Wahrnehmung zwischen den emsigen Niederländern und den flamboyanten Franzosen oft durch den Rost.
Dabei hat sich hier parallel zu den Moderevolutionären wie den "Antwerpener Sechs" eine kleine, aber aufregende Architekturszene verfestigt, die zwar keine Weltstars gebärt, dafür in erfrischender, bisweilen ruppiger Sprödigkeit immer wieder zu überraschen weiß - passend zu diesem komplizierten Land mit seinen inneren Verwerfungen.
Nieuwe Eenvoud - neue Einfachheit - wurde die Ausrichtung dieser Gruppe um flämische Architekten wie Stéphane Beel und Paul Robbrecht & Hilde Daem der Einfachheit halber tituliert. Daraus auf anämisch-braven Minimalismus zu schließen wäre weit verfehlt. Wie viel Spaß am Bauen, hinter den Fassaden steckt, zeigt eine formidable Ausstellung am Vorarlberger Architekturinstitut (vai) in Dornbirn, die sich dem Trio De Vylder Vinck Taillieu aus Gent widmet.
Die ehemaligen Stéphane-Beel-Mitarbeiter Jan De Vylder, Inge Vinck und Jo Taillieu haben in wenigen Jahren ein enorm umfangreiches Werk geschaffen, in einer unbändigen Freude am selbstreflexiven Basteln, wie man sie heute selten sieht.
Das belgische Einfachheitslabel wollen sie sich eher ungern umhängen lassen, das belgische Chaos sehr wohl: "Rund 80 Prozent aller Wohnbauten in Belgien werden privat errichtet, in Holland ist es genau umgekehrt", sagt Jo Taillieu. "So ist ein komplettes Durcheinander entstanden. Aber es steckt sehr viel Schönheit in dieser Hässlichkeit."
Freude am Durcheinander
Die Freude am Durch- und Nebeneinander wird in der Ausstellung auf den ersten Blick deutlich. Auf 50 Tischen wird das Werk des flämischen Trios in Modellen, Möbeln, Zeichnungen, Skizzen und Fotos ausgebreitet. Geschönte Computer-Renderings sucht man vergebens, hier herrscht eine Lust am Handgemachten, die nicht aus nostalgischer Bleistiftromantik herrührt, sondern aus einem permanenten Infrage- und Auf-den-Kopf-Stellen der eigenen Ideen.
Paradebeispiel: die zwei spiegelbildlichen Bauten für das Tanzensemble Ballets C de la B und das Musiktheater LOD in Gent, die 2009 für den Mies-van-der-Rohe-Preis nominiert wurden. Wie in einem Schaukasten wird hier die nackte Rohbauwand in schönster Ruppigkeit direkt hinter der Glasfassade ausgestellt, knallgrüne Stützen und Stiegengeländer aus dem Baumarkt vervollständigen die wilde Collage. "Für das, was uns wichtig ist, brauchen wir keine edlen Materialien", erklärt Inge Vinck.
Noch radikaler ging man beim Umbau eines typisch belgischen Wohnhauses in Rotelenberg vor. Anstatt die alte Klinkerfassade mit einem alles versiegelnden Styropormantel zuzukleistern, trat man den erfindungsreichen Rückzug nach innen an: "Wir haben ein Haus ins Haus gebaut, mit einfachen Glaselementen, wie man sie für Wintergärten verwendet", sagt Jo Taillieu. "So entsteht ein Zwischenraum, den man in den warmen Monaten bewohnt. Im Winter zieht man sich in die innere Hülle zurück."
Ein frischer, unfertiger Baustellencharme, der jedoch genau durchdacht ist. De Vylder Vinck Taillieu haben keine Scheu, mit Standardprodukten aus dem Baumarkt zu arbeiten und diese dann gegen den Strich zu kombinieren.
Eine Entdeckung neuer Bedeutungen in Alltagsgegenständen, die an die Readymades eines Marcel Duchamp erinnert. Addiert man dazu so vergnügliche Irritationen wie die in der Luft hängenden Wände und auf dem Kopf eingebauten Türen in einer Galerie in Gent oder wie nachträglich zugemauert wirkende Blindfenster in einem Neubau, landet man schnurstracks bei René Magritte.
Kein Zufall, sagt Jan De Vylder: "Belgien ist ein durch und durch surrealistisches Land, und das erklärt auch unsere Arbeit. Mit dem Unterschied, dass wir den Realismus im Surrealen suchen."
Denn ganz realistisch sind diese Verdrehungen nie rein visueller Witz, sondern erfüllen immer einen architektonischen Zweck. Nur wird dieser eben am liebsten im Unerwarteten gesucht und gefunden: Steht ein Baum auf dem Grundstück exakt dort, wo nach behördlicher Vorschrift das Haus stehen muss, und reicht noch dazu das Budget des Bauherrn für ein so großes Haus gar nicht aus, werden diese Zwänge einfach zu etwas Neuem amalgamiert: einem Baum-in-Haus-in-Haus. Probleme? Gibt's nicht. Hat man einen ganzen Haufen Bäume auf dem Baugrund, wie beim "Haus BM", wird das Wohnen eben zum Wandern durch den Wald, und das Haus schlängelt sich im Kreis zwischen den Bäumen durch.
In Zeiten, in denen mehr denn je erwartet wird, dass sich die Realität dem längst fertigen Computerentwurf anzupassen hat, eine erfreulich erfrischende Herangehensweise. "Die größte Freude ist es, mit den Plänen auf die Baustelle zu kommen und sie dann mit den Handwerkern zusammen wieder zu ändern", sagt Jan De Vylder. "Wir lehren, theoretisieren, diskutieren, aber am liebsten machen wir einfach Dinge."
Das nächste große Ding ist schon in der Mache: der belgische Pavillon auf der Architekturbiennale in Venedig. Ob Ziegelsteine dabei eine Rolle spielen werden, ist noch geheim.
(erschienen in: Der Standard, 21./22.4.2012)
De Vylder Vinck Taillieu, vai - Vorarlberger Architekturinstitut, bis 7. Juli