Austria sucht die Superstadt

Graz 2003, Linz 2009 – was kommt als Nächstes? Im Jahr 2024 wird Österreich wieder eine Kulturhauptstadt stellen. Eine engagierte Schar von Architekten, Aktivisten und Studenten will die Auswahl nicht den Beamten überlassen

Vor genau einem Jahr knirschte es in einem belgischen Gebälk. Aus der spektakulären Wolke aus rot bemalten Holzlatten, die der heimische Künstler Arne Quinze im Stadtzentrum von Mons installiert hatte, krachten Anfang Jänner 2015 mehrere Stücke zu Boden. Kurz darauf wurde das gesamte 400.000 Euro teure Kunstwerk aus Sicherheitsgründen eingestampft. Was ein feierlicher Auftakt des Kulturhauptstadtjahrs hätte werden sollen, wurde eine unsanfte Landung noch vor dem Start. Dabei hatte man alles aufgeboten: einen neuen teuren Bahnhof von Stararchitekt Santiago Calatrava, der leider erst 2018 fertig wird, und ein Museum von Stararchitekt Daniel Libeskind, das aussieht wie ein B-Klasse-Libeskind-Museum aus der Serienproduktion. Am Ende des Jahres hatte Mons dennoch die angepeilte Marke von zwei Millionen Besuchern übertroffen. Ob dies ein langfristiger Erfolgsgarant ist und die Investitionskraftakte die wallonische Industrieregion auf Dauer kulturell beleben, wird sich erst noch zeigen.

Gut möglich, dass die Megabauten in Mons die letzten Dinosaurier ihrer Art sind. Der Versuch von kleineren Großstädten und größeren Kleinstädten, über signature buildings den Aufstieg in die erste Liga zu schaffen, glückt nicht immer, ebenso wenig wie der Versuch, ein Kulturhauptstadtjahr als Startrampe in eine goldene Zukunft zu nutzen. Denn pünktlich zum 1. Jänner des Folgejahrs ist die internationale Aufmerksamkeit schlagartig weg.

Die Zeit der Monumente scheint vorbei. Immer mehr Kulturhauptstädte versuchen, auf dem Nährboden aufzubauen, den sie haben, und regional zu kooperieren, wie es etwa das Ruhrgebiet 2010 getan hat. In dessen lakonisch-handfestem Arbeitermilieu sind rivalisierende Stadteitelkeiten (sieht man vom Fußball ab) weniger ausgeprägt, außerdem hat man schon bei der erfolgreichen Internationalen Bauausstellung (IBA) Emscher Park die regionale Kooperation geübt. Die Geschichte der europäischen Kulturhauptstädte seit dem Auftakt 1985 in Athen ist ein ebenso wildes Auf und Ab von Erfolg und Katastrophen wie die Geschichte der Austragungsorte der Olympischen Spiele. Hehre europäische Ideale trafen auf Dollarzeichen in den Augen von Lokalpolitikern, oft folgte einem Jahr voller feierfroher Events ein weit vor allem finanzieller Kopfweh-Kater. Manche, wie Glasgow 1990 oder eben das Ruhrgebiet 2010, gelten als Erfolg, andere, vor allem kleinere Städte wie Weimar und Maribor verschuldeten sich auf Jahre. Marseille und Aix-en-Provence stritten sich noch im Austragungsjahr 2013 über die korrekte Namensnennung.

2016 muss man sich um das quirlige Wroclaw eher wenig Sorgen machen, während die Vorbereitungen im baskischen San Sebastian von jahrelangen Protesten begleitet wurden. In Österreich gelten Graz 2003 und Linz 2009 als weitgehend erfolgreich, wenn auch Graz-2003-Geschäftsführer Eberhard Schrempf zehn Jahre später klagte, man habe die damals aufgebaute Marke in den Folgejahren verkümmern lassen. 15 Jahre nach Linz wird Österreich 2024 wieder an der Reihe sein. Graz und Linz werden wohl ebenso wenig antreten wie die Hauptstadt Wien, denn die Auswahl konzentriert sich inzwischen auf die oft übersehenen und doch mit ganz eigener Kultur gesegneten "Zweiten Städte". Salzburg wiederum ist in seiner ganz eigenen Kultur auf alle Ewigkeit in Erstarrung festzementiert.

Auf welche der recht überschaubaren übrigbleibenden Großstädte soll also die Wahl fallen? Das hat sich auch Elisabeth Leitner gefragt. Die Architektin und Dozentin an der TU Wien hat über Europas Kulturhauptstädte promoviert und wurde naturgemäß neugierig, als Österreich den 2024-Slot bekam. Beim zuständigen Bundeskanzleramt hieß es jedoch lediglich, man beabsichtige, nach Vorschrift im Jahr 2018 auszuschreiben. "Ich dachte: Das kann es ja nicht sein!", sagt Elisabeth Leitner im Gespräch: "So eine Entscheidung muss viel früher diskutiert werden, und zwar in der Öffentlichkeit!" Dies, zumal sich ab 2020 das EU-Regelwerk ändert. Anstatt wie bisher eine aus nationalen und internationalen Vertretern gemischte Jury wird zukünftig ein Panel aus 13 unabhängigen Experten entscheiden. Darunter auch Experten für Stadtentwicklung.

"Der Erfolg der Kulturhauptstädte wird im Nachhinein immer an Nächtigungszahlen und realisierten spektakulären Bauprojekten gemessen", sagt Leitner. "Aber es geht um Stadtentwicklung, und darin steckt so viel mehr." Nachdem sich beim Bundeskanzleramt wenig Bewegung zeigte, schrieb sie kurzerhand alle österreichischen Hochschulen an, und bekam von allen prompt eine Antwort. Schon zwei Monate später waren die Initiative "Kulturhauptstadt 2024" und eine bundesweite Lehrveranstaltung auf die Beine gestellt. Mehr als 100 Studenten der Architektur und Stadtplanung von acht Universitäten vernetzten sich untereinander, reisten im ganzen Land umher und machten sich Gedanken über kulturelle Räume. Im Herbst 2015 war dank selbstlos-studentischer Eigeninitiative eine Wanderausstellung mit begleitenden Diskussionen auf die Beine gestellt. Die ausgestellten Konzepte sind nicht weniger als eine umfassende und grenzüberschreitende Österreich-Analyse im Schnelldurchlauf: eine bis in die Schweiz reichende Kulturregion Rheintal, eine Linie entlang der Drau von Osttirol über Kärnten bis Slowenien, die trinationale pannonische Tiefebene, Adrenalinspritzen für darbende Industrieregionen wie das Murtal und Eisenerz oder die "Unsichtbare Kulturhauptstadt Transkirchen". Andere analysieren und kritisieren das System Kulturhauptstadt selbst und liefern Vorschläge zu einem demokratischen Abstimmungsverfahren.

Vorigen Mittwoch wurde die Ausstellung nach Stationen in Graz, Bregenz und Innsbruck im Architekturzentrum Wien eröffnet, und ein dicht besetztes Podium warf Fragen über Fragen auf: Welche kritische Masse braucht eine Kulturhauptstadt, um erfolgreich zu sein? Und wie viel Geld? Funktionieren grenzübergreifende Kulturhauptstädte? Soll man das Thema Flüchtlinge und Migration miteinbeziehen? Welche Rolle spielen Baukultur und Tourismus? Braucht Europa wirklich eine Kulturhauptstadt Mistelbach oder Bad Ischl? Muss es überhaupt eine Stadt sein? Zusammenfassend könnte man fragen: Wie urban ist Österreich eigentlich, und wie urban will es überhaupt sein? Hat die inzwischen fast besessene Fixierung auf das Regionale, vom Waldviertler Biowürstl bis zu burgenländischen Musikfestivals, ein alpin-kulturelles Potenzial jenseits von Musikantenstadl und Wintersportmarketing?

"Eine Kulturhauptstadt auf die Beine zu stellen, bedeutet sechs Jahre Knochenarbeit. Man braucht charismatische Personen und muss von anderen Städten lernen", sagt Elisabeth Vitouch, Mitglied der EU-Kulturhauptstadt-Jury. 60 Millionen Euro müsse man auf jeden Fall in die Hand nehmen. Die Schwerpunkte änderten sich jedoch permanent. "Die Zeit der Großprojekte ist vorbei, heute geht es um die Bürger. Das italienische Matera, Kulturhauptstadt 2019, ist zwar mit 60.000 Einwohnern eigentlich zu klein, aber die Bewohner wollen das unbedingt." Wichtig sei es, Minderheiten einzubeziehen. Das slowakische Košice, das just im Austragungsjahr 2013 Mauern um Roma-Siedlungen errichtete, gilt als abschreckendes Beispiel. "Die Zeit der signature buildings ist vorbei, es geht um Prozesse", ist auch Elisabeth Leitner überzeugt. Von millionenschweren Mindestbudgets solle man sich jedoch nicht abschrecken lassen, sagt sie. "Kulturhauptstadt muss ein bissl wehtun. Das schadet nicht! Aber ich bin absolut überzeugt: Es gibt ein Regelwerk, aber es gibt auch viel Spielraum, um Stadt anders zu denken. Wir sollten nicht zurückschauen, sondern nach vorne und uns fragen: Was ist Kultur im Jahre 2030? Spätestens 2018 wird feststehen, welche Stadt oder Region für Österreich in den Ring steigt. Die Diskussion ist jetzt schon eröffnet.

 

 

Erschienen in: 
Der Standard, 17.1.2016