Auftrieb für ein Atlantis der Zukunft

Innsbrucker Forscher und Architekten entwickeln Pläne für Energiespeicher als Basis für schwimmende Städte und bauen energieautarke Fischerhäuser

Von archaischen Atlantis-Legenden über schwimmende Bond-Bösewicht-Kommandozentralen bis zu Kevin Costners dystopischem Film Waterworld: Das Leben auf dem Meer hat die Menschheit schon immer fasziniert. Visionen, die zwischen Zukunftsoptimismus und Katastrophenszenarien oszillieren und manchmal beides miteinander verbinden. Angesichts der Prognosen hinsichtlich des Ansteigens des Meeresspiegels, die küstennahe Regionen und Städte zu prekären Gefahrenzonen machen, gewinnen diese Pläne heute an Dringlichkeit.

Auch Architekten haben sich immer wieder dieser maritimen Faszination angenommen. 1960 präsentierte Kenzo Tange seinen heute megaloman anmutenden Plan zur Überbauung der gesamten Bucht von Tokio mit einer Stadt auf dem Wasser. Es blieb eine Vision. In den vergangenen Jahren entspann sich ein wahrer Wettbewerb um die aufsehenerregendsten Bilder für schwimmende Siedlungsformen der Zukunft. Bisher gingen diese Pläne jedoch selten über den glattgebügelten Investorenfuturismus schicker Computervisualisierungen hinaus. Über die Frage, wie schwimmende Zukunftsstädte technisch genau funktionieren sollten, schwieg man sich meistens aus.

Ein interdisziplinäres Team an der Universität Innsbruck hat sich jetzt darangemacht, solche Pläne konkreter werden zu lassen. Zwei Projekte, die zurzeit auf der Expo im kasachischen Astana ausgestellt werden, kombinieren die Aspekte Energiegewinnung, Energiespeicher und Architektur. Die Frage, wie man aus Wind und Sonne gewonnene Energie speichert, um sie zum richtigen Zeitpunkt wieder ins Netz einspeisen zu können, beschäftigt die Wissenschaft seit langem. Markus Aufleger, Robert Klar und Bernd Steidl vom Arbeitsbereich für Wasserbau der Fakultät für Technische Wissenschaften in Innsbruck haben dazu ihr eigenes Patent entwickelt: Das Projekt mit dem Namen Buoyant Energy setzt auf im Meer schwimmende Hohlkörper. Die Energie dient hierbei dazu, die Hohlräume leerzupumpen, wodurch der Körper auftreibt. Wird die Energie wieder benötigt, lässt man den Körper wieder mit Wasser volllaufen, wodurch eine Turbine angetrieben wird.

"Diese schwimmenden Speicher funktionieren ähnlich wie Pumpspeicherkraftwerke", erklärt Robert Klar. "Sie liefern dann Energie, wenn sie tatsächlich gebraucht wird." Für die Konstruktion haben sich die Forscher mehrere Varianten überlegt. Die schwerste: große schwimmende Tanks aus Beton. "Betonschiffe gab es schon in den 1920er-Jahren, manche werden heute noch verwendet", sagt Klar. Der Vorteil dieser langlebigen schwimmenden Schwergewichte: Sie wären ein ideales Fundament für Gebäude oder ganze Städte. "Man könnte problemlos Parkhäuser, Büros, Wohnungen oder Opernhäuser darauf errichten", schwärmt Klar.

Nebenbei könnte das Bausystem einen Synergieeffekt bewirken und brachliegende Wirtschaftszweige wiederbeleben. "Viele alte Werften werden nicht mehr genützt", sagt Klar. "Die Schwimmkörper könnten in Zukunft dort an Land produziert werden und dann auf See als modulares System zusammengefügt werden." Durch die Größe und Anordnung dieser künstlichen Inseln könnten Städte auch den Elementen besser widerstehen und wären widerstandsfähig gegen Stürme und Sturmfluten. "Diese Bebauung könnte sich den Bedürfnissen der Zukunft anpassen", ergänzt Bernd Steidl. "So könnte man Städte, die vom steigenden Meeresspiegel gefährdet sind, sukzessive umsiedeln."

Doch auch eine leichtere Bauweise ist für die Forscher denkbar. Diese würde aus wasserfesten Textilien oder Kunststoffgewebe hergestellt und wie Schlauchboote funktionieren. "Das wäre natürlich um ein Vielfaches billiger als Beton", so Robert Klar, "und die nach oben offenen Wassertanks könnten bei dieser Variante zum Beispiel für Aquakulturen genutzt werden." Um die Realisierungsmöglichkeiten solcher ozeanischen Zukunftspläne auszuloten, arbeiten die Innsbrucker mit dem niederländischen Büro Deltasync zusammen, das sich seit Jahren der Machbarkeit von schwimmenden Städten widmet. Ebenfalls in dieses Netzwerk eingebunden ist das Seasteading Institute, das Methoden untersucht, nach denen "Start-up-Gesellschaften" auf den schwimmenden Inseln ihr Zusammenleben aufbauen und organisieren könnten. Anfang 2017 hat das Institut eine Übereinkunft mit Französisch-Polynesien geschlossen, um dort eine "Seazone" als Kleinstaatenbaustelle einzurichten.

Doch es gibt auch viel näherliegende Kooperationen, nämlich an der Uni Innsbruck selbst. Hier fand sich ein idealer Partner in Rames Najjar, Professor für Hochbau am Institut für Experimentelle Architektur. Gemeinsam mit seinem Bruder Karim Najjar, Professor an der American University of Beirut, führt er das Architekturbüro Najjar & Najjar, das schon seit Jahren kinetische und maritime Architekturen entwickelt. Eine Kombination dieser Aspekte trägt den Namen Iris und ist jetzt ebenfalls auf der Expo Astana zu sehen. Megaloman geht es dabei nicht zu, im Gegenteil. Die beweglichen Fischerhütten beziehen ihre Energie aus den Wellenbewegungen des Meeres.

"Die Küste des Libanon ist dicht verbaut, die Grundstücksspekulation ist enorm. Die traditionellen Fischer haben heute kaum noch Platz und auch keinen Strom mehr für ihre Häuser", sagt Rames Najjar. Die Lösung des Problems ist so einfach wie poetisch: eine bewegliche Fischerhütte auf Stelzen, die einen langen Arm wie einen dünnen Finger ins Wasser taucht. Über diesen Schwimmer wird die Wellenbewegung auf die Konstruktion übertragen und zur Energiegewinnung für die Häuser der Fischerfamilien genutzt. "Diese Strukturen sind betont Lowtech, damit sie von den Nutzern selbst errichtet und benutzt werden können", erklärt Rames Najjar. "Iris ist ein Versuch, zwei sehr unterschiedliche Welten, die dichtbesiedelte Stadt und das offene Meer, funktional und ästhetisch miteinander zu verbinden."

Bis zur Realisierung dauert es allerdings noch. Ein Prototyp wurde im Libanon bereits errichtet; an der Funktionsweise wird noch gefeilt. Dass eines der Spielfelder, auf dem die Zukunft sich entscheidet, auf dem Wasser liegt, daran besteht für Wasserbauer und Architekten kein Zweifel. "Das Meer und die autarke Energiegewinnung werden das Thema der Zukunft sein", ist Rames Najjar überzeugt. Das Atlantis der Zukunft muss ja kein Megamasterplan à la Kenzo Tange werden. Ein Netzwerk aus leichten, intelligenten Systemen passt schließlich viel besser zu dem sich permanent bewegenden Ozean.

 

Erschienen in: 
Der Standard, 7.7.2017