Auf eigene Gefahr!

Die Ausstellung „Form folgt Paragraph“ im Architekturzentrum Wien macht sichtbar, wie Bauordnungen und Gesetze das Stadtbild bestimmen – und wie groß die Angst vor Fehlern und Risiken inzwischen geworden ist.

Sommer 2017, ein Kindergarten in Graz. Ein fünfjähriges Mädchen stürzt beim Rutschen aus 60 Zentimetern Höhe auf eine Bodenmatte und bricht sich den Arm. Die Kindergärtnerin stand in der Nähe, hatte aber 21 Kinder zu beaufsichtigen. Der Vater des Kindes verklagte den Kindergarten auf 15.400 Euro Schadensersatz und Haftung für sämtliche Spät- und Dauerfolgen. Das Oberlandesgericht gab ihm recht. Eine Nachricht, die vor wenigen Wochen für erhebliches Kopfschütteln sorgte. Zwar sind die Sorgen des Vaters verständlich, doch muss wirklich wegen jedem Unfall ein Anwalt eingeschaltet werden? Ist immer, wenn etwas passiert, jemand schuld? Steuern wir auf amerikanische Zustände zu, braucht das Leben an sich schon eine Gebrauchsanweisung mit Disclaimer: Auf eigene Gefahr?

Dabei war es doch schon einmal anders. Junge Zuschauer der Anfang der 1980er Jahre spielenden Netflix-Serie „Stranger Things“ können es gar nicht fassen, dass sich die dreizehnjährigen Titelhelden dort den ganzen Tag alleine mit ihren Rädern in Stadt, Wald und Wildnis herumtreiben. Auch in Wien war das Kinderspiel früher keineswegs mit Gefahr assoziiert. Der lustige Weltraumkugel-Spielplatz der Wiener Internationalen Gartenschau (WIG) 1974 im heutigen Kurpark Oberlaa wäre mit seinen scharfen Kanten und kleinen Gucklöchern heute, wo Spielgeräte zertifiziert sein müssen, kaum zulässig.

Was ist seitdem passiert? Passiert immer öfter etwas, oder wird immer öfter, wenn etwas passiert, zum Anwalt gerannt? Und warum werden die Verletzungen von Kindern trotz des durchzertifizierten Umfelds mehr statt weniger? Diese und andere Fragen stellt die Ausstellung „Form folgt Paragraph“, die vorige Woche im Architekturzentrum Wien (Az W) eröffnet wurde. Nicht nur die „Vollkaskogesellschaft“, die immer sofort schreiend nach dem Schuldigen sucht, wird hier thematisiert, sondern vor allem die Frage, wie Normen und Gesetze Stadt und Architektur beeinflussen.

Schon seit Jahren stöhnen Architekten und Investoren immer lauter über die „Normenflut“, die das Bauen immer teuer und die gestalterische Freiheit immer enger macht. Die Spielplatzverordnung ist nur eine davon. Dazu kommen: Flächenwidmungs- und Bebauungspläne, neun verschiedene Bauordnungen in den Bundesländern, ÖNORMEN, OIB-Richtlinien, Brandschutz-Richtlinien, Barrierefreiheit, und spezielle Anforderungen für Schulen, Krankenhäuser, Garagen und den geförderten Wohnbau.

Noch dazu ändern sich diese Gesetze oft so schnell, dass ein Gebäude manchmal schon während der Planungsphase plötzlich in die Illegalität rutscht und mit erheblichem Aufwand den neuen Bestimmungen angepasst werden muss. Dabei erweist sich auch das scheinbar Einfache als erstaunlich kompliziert. In der niederösterreichischen Bauordnung beispielsweise ändert sich die Definition der Höhe eines Gebäudes zirka alle zwei Jahre. Mal werden Geländer von Dachterrassen dazugezählt, dann wieder nicht. Auch die Wiener Bauordnung ist ein wahres Gesetzeslabyrinth. Seit der schmalen Erstauflage im Jahr 1829 mit 30 Paragrafen ist sie auf die Telefonbuchgröße von 1055 Seiten und 140 Paragrafen angeschwollen.

Nicht alle davon sind auf Anhieb verständlich. Ein Satz in § 54, Absatz 13.1 der Wiener Bauordnung, der die Beschaffenheit und Instandsetzung von Gehsteigen regelt, beginnt mit „Die Landesregierung...“ und endet  109 Worte später mit „...für öffentliche Zwecke erlassen“. Solche Satzungetüme mögen ins Klischee des Juristenkauderwelschs fallen, aber auch hier gilt: Irgendwann hat sich jemand etwas dabei gedacht. Die meisten der jüngsten Paragraphen regeln eine Schutzfunktion: Umweltschutz, Brandschutz, Barrierefreiheit, Schutz vor Feuchtigkeit, Immissionen, vor „Rutsch-, Stolper- und Absturzunfällen“ und vor „Aufprallunfällen und herabstürzenden Gegenständen“.

„Es ist uns wichtig, zu zeigen, dass alle Regeln und Gesetze gesellschaftlich entstanden und kulturspezifisch sind,“ betont AzW-Direktorin Angelika Fitz. Nicht selten waren es Katastrophen, die zu Gesetzesänderungen führen. Wenn es einen Paragraph gegen herabstürzende Gegenstände gibt, müssen irgendwann Gegenstände mit bösen Folgen herabgestürzt sein. Nach dem katastrophalen Ringtheaterbrand von 1881, bei dem fast 500 Menschen starben, weil die nach innen aufgehenden Türen blockiert waren, gilt als Anfang für die Professionalisierung der Feuerwehr und brachte einschneidende Regeländerungen im Brandschutz. Nach dem Einsturz der Reichsbrücke 1976 wiederum wurden verschärfte Sicherheitskontrollen eingeführt. Nach wiederkehrenden Berichten über die „Todesfalle Aufzug“ wurden zwischen 2006 und 2007 ganze 8.000 von 40.000 Aufzugsanlagen in Wien nachgerüstet.

Heute wird jeder Quadratmeter Wien von Paragraphen, Normen und Richtlinien geformt, die den Architekten einiges an Koordinationskraft abverlangen und für Laien unsichtbar sind. Anschauungsbeispiel: Ein begrünter Innenhof im neu bebauten Sonnwendviertel inklusive Kinderspielplatz. Hier sind Größe des Spielplatzes, dessen Entfernung zu den Wohnungsfenstern (nicht zu nah, nicht zu weit), die Zufahrt und Aufstellfläche für Feuerwehrfahrzeuge, die darunterliegende Tiefgarage, deren Abluft, und die Größe der Fahrrad- und Kinderwagen-Abstellflächen im Erdgeschoss alle exakt vorgeschrieben.

Apropos Erdgeschoss: Wo kommen eigentlich die ebenerdigen Garagen her, die in Gründerzeitbauten eingebaut werden und den Gehweg zur toten Zone machen? Auch sie haben ihren Ursprung in einem Gesetz. Denn für lukrative Dachbodenausbauten müssen nicht nur Aufzüge eingebaut werden, sondern auch Stellplätze geschaffen werden. In dicht bebauten Vierteln bleibt da meist nichts anders übrig, als Wohnraum im Erdgeschoss zu opfern.

Doch auch dort, wo es weniger eng zugeht, stecken die Paragraphen enge Grenzen. Wenn Grund und Boden teurer wird, heißt es auch in Villenvierteln, die lukrative Nutzfläche zu maximieren. Also wird alles herausgeholt, was die Bauordnung hergibt. Wenn man dann alle erlaubten Erker, Dachgaupen und Balkone ausreizt, ergeben sich äußerst seltsam verschachtelte Geometrien, die keiner Regel zu folgen scheinen. Nicht selten zum Entsetzen der Nachbarn, die aus allen Wolken fallen, wenn im bisherigen Einfamilienhausgebiet solche wie mit Vitaminspritzen aufgepumpten und aufgepimpten Bauvolumen auftauchen. Mit der Visualisierung solcher Formfindungen leistet die Ausstellung geradezu beispielhafte Aufklärungsarbeit. Auch mehrere Behörden hätten sich, so das AzW, schon zur Besichtigung angemeldet.

„Wir haben festgestellt, dass sich die Architektur von heute sich nicht mehr von selbst erklärt. Es gibt keine Gebrauchsanweisung,“ sagt Martina Frühwirth, die gemeinsam mit Karoline Mayer und Katharina Ritter die Ausstellung kuratiert hat. So manche Absurdität wird erst im internationalen Vergleich sichtbar. In Österreich werden Klagen wegen Kinderlärm stets abgewiesen, ein Spielplatz in Berlin jedoch wurde aus präventiver Angst vor Nachbarn mit einer fünf Meter hohen Lärmschutzwand umgeben. Anders sieht es bei Gerüchen aus: Einem Wiener, der eine französische Bäckerei eröffnen wollte, wurde beschieden, der Brotduft dürfte die Backstube nicht verlassen, da er eine Geruchsbelästigung darstelle. Die natürliche Reaktion darauf: Kopfschütteln! Amtsschimmel! Schildbürger! Doch wie sähe ein Gesetz aus, das zwischen „guten“ und „bösen“ Gerüchen unterscheidet?

Denn ist es keineswegs so, dass Architekten nur Erfüllungsgehilfen der Normen sind. Sie haben schon immer die Regeln auf Schlupflöcher untersucht, oder versucht, in den Restriktionen Freiräume auszuloten. Der 2014 eröffnete Bildungscampus Sonnwendviertel verdankt seine ungewöhnlich ausfransende Form nicht zuletzt einer lässig-direkten Umsetzung der strengen Brandschutzvorschriften für Schulen durch das Architekturbüro PPAG. Dank der verschachtelten Anordnung der Räume kann direkt von jedem Klassenzimmer ins Freie geflüchtet werden, dafür durfte das Innere zur spielerisch-offenen Bildungslandschaft werden. Manchmal führen Paragraphen also zu ungeahntem kreativen Potenzial. „Auf der einen Seite wird die Ausstellung die Architektur ein Stück weit entzaubern“, sagt Angelika Fitz, „aber andererseits wird gerade angesichts der Fülle an Vorschriften die enorme kreative Leistung von Architektinnen und Architekten sichtbar.“

Andere Gesetze tragen das Schlupfloch schon in sich. Der berühmt-berüchtigte Paragraph 69 der Wiener Bauordnung erlaubt "unwesentliche Abweichungen von Bebauungsvorschriften", ist also ein Paragraph, der in einer sehr wienerischen Auslegung der Realität die anderen Paragraphen relativiert. In der Praxis heißt das: Die Rechtmäßigkeit wird auf den Schreibtischen der Baupolizei ausgehandelt. Dies führte immer wieder zu sehr großzügigen Auslegungen des Begriffs „unwesentlich“. Der 1999 eröffnete Millennium Tower war dank des Paragraphen 69 von ursprünglich bewilligten 140 Metern auf 202 Meter Höhe, also um 44 Prozent, gewachsen. Nach zahlreichen Protesten wurde der „Neunundsechziger“ im Jahr 2009 toleranzentschärft. Abweichungen sind seitdem nur noch möglich, wenn diese nicht der Zielrichtung des Flächen- und Bebauungsplans widersprechen.

Man sieht: die Baugesetze nicht in Stein gemeißelt, sondern permanent in Bewegung und Zwischenergebnisse gesellschaftlicher Aushandlungen. Dies lässt sich auch in der Ausstellung ganz spielerisch nachvollziehen: Hier wurden zulässige Stiegen aus Österreich, Japan, USA, den Niederlanden und Neuseeland nachgebaut. Wer sich auf die schmalen, steilen japanischen Treppen wagt, sieht aus dem Augenwinkel die angebrachte Notiz: „Auf eigene Gefahr“.

 

Erschienen in: 
Falter 48/2017, 29.11.2017