Aber bis zur Spitze kam er: Von der Sehnsucht, einen Turm zu bauen

Was den Baumeister Solness antreibt

Beitrag im Programmheft des Staatsschauspiels Dresden zum Stück "Baumeister Solness" von Henrik Ibsen.

Der Baumeister Halvard Solness kommt uns bekannt vor. Ein Archetyp unter Architekten: der getriebene Egomane, der seinen Mitmenschen zwar Wohnungen baut, aber, sind wir ehrlich, sich letztendlich doch nur selbst verwirklichen will. Und hinter seinem Drang in die Höhe, seiner Turmsehnsucht, ahnen wir jahrelang gärende Komplexe, wenn nicht gar ein handfestes Trauma. Ja, unsere durch Bücher, Filme, Vorabendserien und die kopfschüttelnde Anschauung überdimensionierter Beton- und Stahlgebilde in unseren Städten genährten Vorurteile werden von „Baumeister Solness“ voll und ganz bestätigt.

Wir kennen den Typen, und wir wollen ihn auch gar nicht anders, denn die Baumeister, die sich der babylonischen Hybris eines Turmbaus verschreiben, sind allemal faszinierender als jene, die sich zwischen DIN-Normen und Polystyrol-Wärmedämmplatten verschleißen, die in überstundenreichen Nächten die 14. Wohnzimmervariante ihrer entscheidungsschwachen Kunden aufzeichnen. Baumeister Solness ist so ein Einzelgänger. Wie so viele Architekten, die weltweit Hochhäuser mit mehr oder weniger deutlichem phallischem Gestus entwerfen, gilt für ihn das eruptive „Es muss so sein!“ mehr als das zaghafte Abwägen. Ein solcher Architekt wird sich der Anhimmelung der völlig auf ihn hin gepolten Frauen sicher sein, Solness inmitten des Dreiecks von Aline, Kaja und Hilde, genauso wie der archetypische, potenzstrotzende Wolkenkratzerarchitekt Howard Roark rund 50 Jahre später in Ayn Rands antikommunistischem Geniekultwälzer „The Fountainhead“. Denn so altruistisch der Wohnungsbau für die Mitmenschen auch sein mag, die drängende Unruhe in Solness kann diese Tätigkeit nicht befriedigen. „Könnten Sie nicht auch über den Heimstätten da so’n wenig – so Kirchtürme machen?“, fragt ihn die kecke Hilde. „Merkwürdig genug, dass Sie das sagen. Denn das ist’s ja eben, was ich am allerliebsten möchte.“ Die Sehnsucht, einen Turm zu bauen, ist unstillbar.

Wir glauben die Figur zu kennen, den Selfmademan in der gründerzeitlichen Aufbruchstimmung am Ende des 19. Jahrhunderts. Die Zeit des neureichen Historismus, als in der Architektur alles ging, solange es mit opulenten Verweisen auf die Vergangenheit bestückt war. Ein Türmchen hier und ein Erker da konnten nie schaden, egal ob an einem Wohnhaus, einer Kirche oder einer Fabrik. Eine Zeit, in der das Gesetz von Leistung und Besitz erstmals stärker war als das von Herkunft und Renommee. Ein Gesetz jedoch, das sich auch ein Baumeister wie Solness immer wieder von Neuem erkämpfen muss. Er muss dranbleiben, darf keine Schwäche zeigen, kann sich auf Respekt und Dankbarkeit von anderen nie verlassen und spürt die Konkurrenz immer im Nacken. Nur in einer solchen Zeit ist es möglich, dass Solness’ ehemaliger Lehrmeister und Chef Knut Brovik wieder zum Hilfszeichner degradiert und von seinem ehemaligen Angestellten erniedrigt und zugrunde gerichtet wird. Die Dynamik von Fortschritt und Kapital ist entfesselt, das Neue wird sich durchsetzen. Solness weiß das, er hat es selbst erlebt, als der alte Familiensitz seiner Frau niederbrannte, Platz machte und seiner Karriere Grund und Boden bereitete. Doch er ahnt, dass sich nach demselben Gesetz auch die Ideen des jungen, ehrgeizigen Ragnar Brovik – „nicht so altmodisch wie meine!“ – durchsetzen müssen. Und wie Solness für den alten Brovik, so hat auch Ragnar für ihn nur Verachtung übrig, als der Baumeister am Ende im kritischen Augenblick Schwäche zeigt.

Wir erinnern uns im Moment seines Fallens an die Geschichten von Architekten, die an ihrem Werk zugrunde gingen, die aus tragischen Verwicklungen oder unglücklichen Zufällen heraus die Erfüllung ihres Traums vom Bauen nicht mehr erlebten. Wie Eduard van der Nüll, der den Spott der Wiener Gesellschaft, die seine Staatsoper als „versunkene Kiste“ verhöhnte, nicht verwinden konnte und sich noch vor deren Fertigstellung erhängte. Wie John A. Roebling, der das technische Weltwunder der Brooklyn Bridge entwarf und an einer Blutvergiftung starb, die er sich auf der Baustelle zugezogen hatte. Baumeister Halvard Solness kommt seinem Ziel näher als diese beiden, sein Haus ist so gut wie fertig, die Menge applaudiert ihm schon, es fehlt nur noch der Kranz auf dem Turm als letzte symbolische Geste der Einweihung, dann schlägt das Schicksal auch hier zu. Und ein Hauch von Genugtuung mischt sich beim Zuschauer ins Mitleid über dieses tragische Scheitern – muss nicht der, der den Schöpfer auf eigenem Terrain herausfordert, am Ende dafür büßen und geopfert werden?

Solness ahnt dies wohl selbst, denn er hat sich einst mit dem Schöpfer unterhalten, als er auf dem Kirchturm stand, den er ihm erbaut hatte: „Jetzt höre mich an, du Mächtiger! Von heute an will ich auch freier Baumeister sein. Auf meinem Gebiet. Wie du auf dem deinigen. Nie mehr will ich Kirchen für dich bauen. Nur Heimstätten für Menschen.“ Ein trockener Realist würde sagen: ein vernünftiger Karriereschritt, die Erweiterung des Portfolios hin zum Siedlungsbau in einer Zeit, da gottloser Kapitalismus en vogue war und Massenquartiere dringender benötigt wurden als Gotteshäuser. Doch wir, mit all unserem Wissen von den Archetypen, ahnen: Der Schritt wird sich noch rächen.

Denn am selben Tag, an dem er die einseitige Abmachung mit Gott besiegelte, ohne dessen Antwort abzuwarten, hat Solness einen zweiten Pakt geschlossen und der kleinen Hilde leichthin versprochen, ihr in zehn Jahren ein Schloss zu bauen. Wie jeder mit gesunder Menschenkenntnis gesegnete Mensch weiß auch Solness, dass kein kleines Mädchen auf der Welt zehn Jahre lang in erstarrter Vorfreude warten würde, um ein solch leichtfertig gegebenes Versprechen wörtlich einzufordern. Dass Hilde das trotzdem tut, liegt daran, dass sie eben nicht einfach ein verträumter Backfisch ist, sondern tatsächlich das „Teufelsmädchen“, als das Solness sie bezeichnet. Ein zurückgekehrter Girlie-Mephistopheles, der den alternden Macho lockt, antreibt, provoziert, die Einlösung des Versprechens fordert: „Dass mein Baumeister sich nicht getraut – nicht so hoch steigen kann, wie er selber baut?“

Die verlockende Jugend in Gestalt von Hilde vor Augen, die ehrgeizige Jugend – den aufstrebenden Architekten Ragnar – im Nacken, in die Ecke getrieben wie ein müdes Tier, sucht der Baumeister in Hilde die Erlösung von all diesem Druck aus Karriere, Turmbau, Wohnungsbau und Schuldgefühlen aus familiärer Tragödie. Ein Luftschloss zu bauen, „das Herrlichste auf Erden“, soll der Herr ihm noch gewähren, für ihn und sein Teufelsmädchen.

Und in diesem Moment, am Ende, ist der Baumeister Solness kein Typ mehr, den wir zu kennen glauben und dem wir die Vergeltung wünschen, die ihm nach den Gesetzen des Schicksals zusteht, kein anmaßender, egoistischer Wolkenkratzerhengst, sondern ein müder Mann, der zurück will zu den Anfängen, den reinen Ideen und Idealen, von irdischer Last befreit, jung, unsterblich. Ein Turmbauer mit Höhenangst. In diesem Moment ist Halvard Solness kein Archetyp mehr, jetzt wechseln wir auf seine Seite, doch er ist uns schon entwischt, und aus der hilflosen Distanz sehen wir ihn fallen.

(erschienen im Programmheft der Spielzeit 2012/13 des Staatsschauspiels Dresden)

Tags: