Sing den Brutalismus!

Kluge Modernisten des Pop: Saint Etienne kehren mit einem tollen Album zurück und erinnern sich an den Beton der Londoner Suburbs.

Die Neue-Deutsche-Welle-Dadaisten Palais Schaumburg bauten eine neue Stadt, Arcade Fire beschrieben die Suburbs, und Starship prahlten tumb: „We built this City“. Doch auf die Frage, welche Band Architektur und Urbanismus am konsequentesten thematisiert hat, kann es nur eine Antwort geben: Saint Etienne.

Seit ihrer Gründung Anfang der Neunzigerjahre streuen Sarah Cracknell, Bob Stanley und Pete Wiggs konsequent detaillierte Referenzen an ihre Heimatstadt London in ihre Texte, huldigen dem Wolkenkratzer und benennen ihren ergreifendsten Schmachtfetzen „Hobart Paving“ nach einer Straßenpflasterfirma.

Musikalisch fanden Saint Etienne eine tragfähige Mischung aus federleichtem Sixties-Pop und dem House der 90er, mischten auf „Tiger Bay“ Cembalo-Balladen mit Hommagen an Kylie Minogue, und wagten auf „Sound Of Water“ mit Hilfe der Berliner Schönklangfrickler von To Rococo Rot Experimente im elektronischen Minimalismus.

Mit ihrem bislang letzten Werk „Tales From Turnpike House“ veröffentlichten sie schließlich 2005 ein ganzes Konzeptalbum über einen Wohnblock – inklusive der von Beach-Boys-Chorälen getragenen Single „Side Streets“, dem wohl schönsten Popsong, der je zum Thema Öffentliche Sicherheit in Großstädten geschrieben wurde.

Das Interesse am Urbanismus verfolgen Saint Etienne auch außerhalb der Musik: So produzierte das Trio Dokumentarfilme über die Geschichte des heutigen Olympiageländes und über die Geschichte der Royal Festival Hall, einer Ikone des britischen Nachkriegs-Modernismus, den sie 2007 unter dem zukunftseuphorischen Titel „This Is Tomorrow“ in eben dieser aufführten.

„Wir sind in Croydon, einem Vorort von London aufgewachsen“, erklärt Pete Wiggs den Hang zu Beton, Stahl und Glas. „Das ist eine Miniaturstadt aus den 50-Jahren, komplett aus Beton." 15 Kilometer südlich der City gelegen, wurde Croydon binnen weniger Jahre zur Stadt mit der höchsten Bürodichte Großbritanniens ausgebaut. „Nach dem Krieg hatte England kaum Geld, es passierte nichts“, sagt Bob Stanley. „Erst in den 60er-Jahren, als wir aufwuchsen, gab es diese Aufbruchstimmung. Stadtautobahnen, Unterführungen, die Sichtbeton-Architektur des Brutalismus – das hat uns auf jeden Fall geprägt.“

Während Pete Wiggs mit seiner Familie inzwischen ins beschauliche Seebad Brighton zog, lebt Bob Stanley heute noch in Croydon. Lokalpatriotisch benannt ist auch sein liebevolles musikhistorisches Blog „Croydon Municipal“, in dem er sich vergessener Stars wie der Sängerin Bobby Gentry  widmet. Kein Wunder: Wie Pete Wiggs hat auch Bob Stanley einst als Musikjournalist gearbeitet. Saint Etienne wirken trotzdem nie besserwisserisch, sondern wie Fans, die vor lauter Fan-Sein eben selbst Musik machen.

Auch das in lakonischer Selbstreferenzialität „Words and Music by Saint Etienne“ betitelte neue Album strotzt wieder vor Fantum und Urbanismus. Das Cover ein Stadtplan, die Straßennamen darauf sind allesamt popkulturell aufgeladen: die eine heißt, nach Bob Dylan, Desolation Row, die nächste Thunder Road (Bruce Springsteen), eine „Zen Arcade“-Shoppingmall nach Hüsker Dü gibt es auch und natürlich die „Penny Lane“ der Beatles.

Eine Hommage an die Musik an sich sind auch die Songs. Dieses Konzept hat bereits zu einigen schaurigen Verirrungen der Popgeschichte geführt – man denke nur an John Miles' Pathoshadern „Music“ –  geführt. Hier versackt es aber nie in bequemen Allgemeinplätzen, sondern beschreibt exakt, wie die Musik dein Freund und Helfer sein kann. „Es geht darum, wie Musik mit dem Leben interagiert“, sagt Pete Wiggs.

Im gesprochenen Eröffnungsstück „Over The Border“ erzählt Sarah Cracknell vom jugendlichen Warten auf Top-of-the-Pops-Sendungen der 70er-Jahre, dem reliquienhaften Anhimmeln von Plattenlabels und liebevoll angefertigten Mixtapes.

Die vor Euphorie übersprudelnde Single „Tonight" feiert die Vorfreude auf den Konzertbesuch: Die neue Platte noch ein letztes mal hören, während man das Make-up aufträgt. Anderswo wird dem DJ als Unterstützer zwischenmenschlichen Anbandelns auf dem Dancefloor gehuldigt, und „I Got Your Music“ freut sich über die Erfindung des Kopfhörers für unterwegs.

Eine derartige Hommage kann nur aus England kommen, einem Land, in dem Popkultur ein fixer Bestandteil des Allgemeinwissens ist. Die Gefahr der Nostalgie wird dabei keineswegs ausgeklammert. „When I was married and had kids, would Marc Bolan still be so important?“, heißt es an einer Stelle des Albums.

Doch die Sorge dürfte unbegründet sein, klingen die Mittvierziger Saint Etienne hier doch jünger als je zuvor. Kein Wunder, man ließ die Songs unter anderem von der Hitmaschine Xenomania, die nach Arbeiten für die Pet Shop Boys und Kylie Minogue zuletzt auch für Gossip tätig war, konsequent auf clubtaugliche Mitsingbarkeit bügeln.

Instrumentale Virtuosität braucht hier niemand zur Schau zu stellen, Kunst und Handwerk liegen allein im Songwriting: Worte und Musik von Saint Etienne, den Rest erledigen Profis. „Bei uns ist es genau wie bei den Pet Shop Boys: Die schwierigen Stellen lassen wir andere spielen", erklärt Pete Wiggs das Arbeitsprinzip der Band lächelnd.

Trotz aller Fülle von Spezialwissen, das die beiden Forscher über Jahrzehnte angesammelt haben, ist ihre Definition von Pop von berückender Klarheit: „Es geht schlicht darum, dass es eingängig und eben populär ist", sagt Bob Stanley. Konsequenterweise enthält „Words and Music by Saint Etienne“ in der Tat einen Popsong namens "Popular", der das Populäre des Pops bejubelt. Das mag wie eine aufdringlich augenzwinkernde postmoderne Ironieorgie klingen, strahlt in seiner aufrichtigen Freude aber den puren Optimismus der Moderne aus. Und wie es sich für Modernisten gehört, kommt auch die Architektur in einem Sprachsample zu Wort: „Corbusier! Van der Rohe! Modern brutalist architecture! The future is clean and modern!“.

Der Geist von Croydon lebt weiter. Brutalismus kann so sanft sein.

 

(erschienen in: FALTER 25/2012, 20.06.2012)