Am Anfang: Nervenkitzel. Schwierig gestaltet sich das Überleben auf der Schnellstraße von Bratislava nach Banská Bystrica, wo es üblich ist, Kolonnen von mit halben Wäldern beladenen Sattelschleppern zu überholen, um sich bei plötzlich um die Kurve rasendem Gegenverkehr schnell eine Lücke zwischen ihnen freizuhupen. Wir ducken uns brav hinter die fahrenden Baumstämme und warten, bis die Irren ihre Heimatgaragen gefunden haben und die Strassen einsamer und friedlicher werden. Hinter Banská Bystrica weichen die Städte Dörfern aus Holz, Blech und Rauch, und am Waldrand stehen kleine Gruppen von Sinti oder Roma in gemusterten Strickpullovern, die mit unbeteiligtem Gesichtsausdruck Pilze und Eimer voller Beeren zum Verkauf anbieten. Als Lockangebot haben sie einen besonders formschönen Teaserpilz dabei, den sie, sobald ein Auto naht, mechanisch in die Höhe halten – oder auch ein Pilzimitat aus Plastik, das lässt sich in der Dämmerung nur schwer erkennen.
Nähert man sich der Hohen Tatra bei Nacht, scheint sie, obwohl das kleinste Gebirge Europas, unerreichbar hoch. die Lichter von Štrbské Pleso schweben senkrecht über der Straße wie Sternbilder, unser Hotel, das „Panorama“ mit seinen nach oben herauswuchernden Geschossen, zeichnet sich als „F“ aus kleinen leuchtenden Rechtecken ab, und man kommt sich vor wie Keanu Reeves in Coppolas „Dracula“, wenn die Kutsche dem düster auf seinem Karpatengipfel thronenden Vampirschloß entgegenrumpelt.
Der Ferienort Štrbské Pleso ist eine Mischung aus Tirol und Transsylvanien mit einem Bergsee in der Mitte und den Bergen dahinter. Ein in die Wälder gestreutes Ensemble aus eigenartigerweise meistens dreieckigen Hotels, und Snackbars, die außen mit unzähligen grellbunten Schildern voller typographischer Exzesse werben, im Inneren aber die schmucklosen und eher unbunten gekachelten Kantinen von früher sind. Hier finden sich noch Reste sozialistischer Dienstleistungsmysterien mit undurchschaubaren Regeln, die man auch aus Budapester Mineralbädern kennt: eine Matrone in weißem Kittel drückt einem einen Zettel in die Hand, den man zu einer anderen, zwei Schritte entfernt stehenden Matrone trägt, worauf diese einem den Teller mit Gulasch oder (ausgezeichneten) Brimsennockerln aushändigt und die Aushändigung auf besagtem Zettel vermerkt, den man erst zur benachbarten Getränkematrone und dann wieder zur Erstmatrone zurückträgt.
Wie überall in der Slowakei herrscht hier flächendeckende Dauerbeschallung, jedes Café und jeder Billig-Grill hat seine eigene Endlosschleife, Volksmusik und Rumpeltechno vermischen sich auf den rustikal möblierten Terrassen. Durch diese wirre Akustik schlendern unbeeindruckt die Wanderer im Goretex-Pärchenlook und Familien mit jausengefüllten Rucksäcken auf dem Weg in die Wälder. Diese sind hier noch weitgehend intakt, nur ein paar schlammige Lichtungen und abgedeckte Holzdächer erinnern an den Sturm vom 19.November 2004, der nicht weit von hier ein 20.000 Hektar großes Areal, das gesamte Herzstück der Tatra, vollständig entwaldet hat, dort stehen die zauberbergartigen Sanatorien und Grand Hotels der Jahrhundertwende nun mitten in einer Wüste aus Baumstümpfen. Umso mehr drängt man sich jetzt in Štrbské Pleso, wo die für die Slowakei so wichtige Dreieinigkeit von Berg, Wald und See noch intakt ist – auch der Katastrophentourismus hat seine Grenzen. Dafür ist die Hohe Tatra zu verwurzelt im Bewusstsein der Slowaken.
Als sich im 19.Jahrhundert, nach langer kultureller und politischer Dominanz von Ungarn und Habsburgern, erstmals ein slowakisches Nationalbewusstsein entwickelte und L’udovit Štur begann, aus den Dialekten eine slowakische Schriftsprache zu entwickeln, suchten sich eine handvoll Vordenker ein Symbol der nationalen Identität, schauten schließlich nach oben und fanden den Berg Kriváň. Der matterhornige Gipfel am westlichen Ende der Tatra war eindeutig das Markanteste, das die sonst angenehm unauffällige Landschaft hergab, und schließlich waren Berge als Treffpunkt der nationale Einheit suchenden Freidenker um 1848 europaweit der
place to be. Also wurden Wanderungen organisiert, um auf der „Nationalen Erhebung“ die Nationale Erhebung voranzutreiben. Noch heute treffen sich an die Tausend Slowaken jährlich im August zur rituellen Besteigung des Kriváň. Der ideale Startpunkt für die Bergtour ist Štrbské Pleso.
Vielleicht herrscht hier deshalb trotz optischen und akustischen Gewusels eine seltsame Stille, Langsamkeit und Melancholie. Oberhalb des Ortes, auf dem Gelände der Nordischen Skiweltmeisterschaften von 1970, sind Scharen bunter Ausflügler versammelt, die nichts bestimmtes tun außer zu stehen und zu schauen. Sie lehnen schweigend am Holzzaun zu Füßen der Sprungschanze und schauen die Schanze an. Ist ihnen der zehnstündige Marsch zum Kriváň zu weit, und finden sie die nationale Geborgenheit deshalb in der Erinnerung an die Zeit, als zumindest der am nordischen Skiwesen interessierte Teil der Welt nach Štrbské Pleso schaute und der tschechoslowakische Skispringer des Jahrhunderts, Jiří Raška, hier auf den zweiten Platz hüpfte?
Die elegante Sprungschanze von 1970 wird nicht mehr benützt, der Schanzentisch ist von Sträuchern überwuchert, das Treppenhaus zur Sprungkabine ist mit Holzbrettern verstellt. Der Lift funktioniert jedoch noch, wir drücken den oberen der beiden mit „0“ und „11“ bezeichneten Knöpfe, und auf den Spuren Jiří Raškas rattern wir hinauf. Im Schanzenkopf ist es hölzern und gemütlich wie in einer Berghütte, ein Quartett Bungeespringer hat sich hier eingenistet – extremsportliche Hausbesetzer, deren Sportgerät an einer ziemlich rostigen, ins Holz geschraubten Seilwinde baumelt.
Der Blick von hier reicht über den See, den Wald und die Sturmschneise hinunter aufs diesige Land, man ist am oberen Ende angekommen. Jedes Land hat solche Enden, Orte, an denen das Fremde zum Greifen nah ist, die Bodenhaftung nachlässt und die vertraute Heimat beim Blick zurück zu einem klaren Bild zusammenrückt.
Nicht immer ist das Ende oben - die Holländer zum Beispiel pflegen sonntags zu den Kranlandschaften des Rotterdamer Hafens zu fahren, dort stellen sie ihre Klappstühle auf den Parkplatz zwischen zwei Öltanks und schauen den ein- und auslaufenden Schiffen zu, um sich danach wieder hinter ihre schützenden Deiche zu ducken. Die Chilenen müssen einfach sehr, sehr lange nach Norden oder Süden fahren, die Engländer und Franzosen haben ihre Schlusspunkte gleich unmissverständlich Land’s End und Finisterre genannt.
Am Ende: Nervenkitzel. Auf dem Weg vom Bergpanorama zurück zum Hotel Panorama werfen wir einen letzten Blick zurück zur schönen Schanze und sehen eine zappelnde Figur vor dem Himmel baumeln, Arme und Beine ausgestreckt wie ein Keith-Haring-Männchen pendelt sie hinter der Schanze hervor. Selbst die albernste Sportart gewinnt an Würde, wenn man damit von oben in ein Land hineinspringen kann.
(erstmals erschienen in TOURISTEN, Heft 2, 2006)