Beppu

Schwefel und Schatten

Die Sakura, also Kirschblüte, ist hier gerade voll im Zenit, wie man dem Sakurawetterbericht im TV, der täglich die Position der Sakurafront verkündet, sowie der knallharten botanischen Realität entnommen hat. Ganze Kirschbaumschwärme besiedeln den Berghang zwischen dem quirligen Strandbeppu und dem permanent dampfenden Bergbeppu. In zunehmendem Halbtrance torkelt man durch weißgepixelte Psychedelik. Und natürlich durch Dampf.

Dampf, Dampf, Dampf. Sie kochen damit, sie heizen damit, sie baden darin. Der Rest dampft einfach so in der Gegend herum. Ein Badetag in Beppu, und man dampft, heizt und kocht selbst. Morgens in heißem Wasser (Onsen) auf dem Dach der Herberge. Mittags im Meer. Nachmittags lässt man sich von Frauen in senffarbenen Yukatas mit heißem Sand zuschaufeln. Dank eines winzigen Holzhockers, den die Senffrauen einem unter den Nacken schieben, kann man dabei sogar aufs Meer schauen. „Beppu - Sandbad der Seefahrer“. Danach ist man weichgekocht wie das Wurzelgemüse, das in Bergbeppus Rentnerrestaurants stundenlang in onsigem Schwefelwasser dümpelt.

„Essen wir heute beim Totkoch-Opa?“

„Ist geritzt.“

***

 Die kochenden, in irren Farben leuchtenden Quellteiche rangieren als Attraktion deutlich über „so mittel“. Für den Japaner ist das nicht attraktiv genug. Deshalb müssen, warum auch immer, zusammenhanglose Zootiere um sie herumdrapiert werden. Die heißen Quellen heißen Jigoku, also „Hölle“. Die Tiere dürften dem zustimmen. Einsame Fische in kleinen, leeren, trüben Aquarien. Hospitalistische Paviane. Ein einsamer Elefant im Niemandsland. Ein Nilpferd, in dessen permanent offenen Mund man für 200 Yen Kartoffelstücke werfen kann. Übereinandergestapelte Krokodile. Bei der Fütterung werden Erfrischungstücher an die kreischenden Bustouristen verteilt, die vom hochspringenden Tier mit stinkender abgestandener Krokobrühe vollgespritzt werden. Großes Hallo.

***

Auf dem wild gemusterten Teppich im Foyer ein Meer von braunen Plastikslippern. Ins Foyer darf man nicht mit Straßenschuhen, in den Saal nur mit Socken. Drinnen hocken ausnahmslos Rentner, ausnahmslos in weiß-blauen Yukatas, auf dem Boden und warten auf ihre tägliche Kurort-Unterhaltung. Alle knistern, knabbern und kichern, wuseln herum, gehen noch mal schnell auf die Toilette. Teil Eins der Aufführung besteht aus ausdrucksstarker, ja geradezu schmerzhaft ausdrucksstarker Pantomime kostümierter Schauspieler zu Playback-Songs, dabei ist immer nur ein Darsteller auf der Bühne, nach jedem Stück Wechsel. Zwischendurch immer wieder Jauchzen und lauter Applaus an Stellen, die sich – für uns – in nichts von anderen Stellen unterscheiden, weder durch einen einsetzenden Refrain oder eine besonders akrobatische Pose. Bis uns klar wird, dass es nicht um den Performer geht, sondern um den Schatten, den er auf den Vorhang hinter sich wirft. Applaudiert wird dem für einen Moment perfekten Schattenriß. Nach einer gefühlten Ewigkeit voller dramatischem Augenrollen und dramatischem Fuchteln zu leicht angestaubten Discokonserven wieder Knabber-, Knister- und Klopause. Von der Empore keckern angeheiterte Opas. Es folgt als zweiter Teil ein offenbar im Samuraimilieu angesiedeltes Historiendrama. Der Handlung zu folgen, ist schwer, aber anscheinend haben die zwei bösen, raffgierigen Töchter ihre arme, alte Mutter verhöhnt und verstoßen, die gute Tochter kehrt ins Dorf zurück, absolviert mehrere Schwertduelle mit irgendwelchen Typen, findet die arme alte Mutter, die jedoch kurz darauf stirbt, worauf die gute Tochter zu Boden sinkt, dramatisch tremolierend „OKA-SAN!!!“ (Ehrenwerte Mutter!) ruft und anschließend unter den bedröppelten Blicken der beiden Bösen Seppuku begeht. Einige ältere Damen im Publikum wischen sich die Tränen aus den Augen. Teil 3 gleicht dann in jeglicher Hinsicht Teil 1, Posen, Schattenwürfe, Discoplayback. Die Rentner sind ausdauernder als wir, die wir uns nach einer Weile diskret zurückziehen und auf eine Wurzeljause zum Totkoch-Opa davonstehlen.

Nach einer der bestdurchschlafenen Nächte ever erwache ich auf der herrlich bequemen Matratze in meinem perfekt ausgewogen proportionierten Tatamizimmer. Die Morgensonne wirft durch das runde Fenster im Osten den perfekten Schattenriß eines Baumes auf die Schiebewand aus Reispapier. Nach der gestrigen Schattenerkenntnis in der Operette ist mir klar: Sowohl Baum als auch Fenster existieren einzig und allein, um dem um diese Zeit auf dieser Matratze erwachenden Gast genau dieses perfekte Bild zu zeigen. Und ich bekomme ein bisschen Angst vor Japan.

Tags: