Eine Ausstellung am Architekturzentrum Wien erzählt die Erfolgsgeschichte einer Wiederentdeckung des Ländlichen in China. Auch anderswo entwickelt man Strategien für "progressive Provinzen"
"Countryside – Future of the World" lautet der Arbeitstitel der Ausstellung, die der Architekt Rem Koolhaas anno 2020 am New Yorker MoMA eröffnen wird. Die neue Ära des Ländlichen wurde bereits lange vorher mit apodiktischem Deutungsgetöse angekündigt, als habe der niederländische Architekt nach 40 Jahren Beschäftigung mit der Stadt plötzlich entdeckt, dass es da noch etwas anderes gibt. Selbst Zukunftsforscher Matthias Horx hat den Trend aufgespürt und ihn mit dem, zugegeben cleveren, Label "progressive Provinz" belegt.
All das ist keineswegs neu, am wenigsten in Österreich, wo sich der Verein Landluft schon seit 20 Jahren mit dem Regionalen beschäftigt und den Landluft-Baukulturgemeinde-Preis auslobt, mit dem Gemeinden wie Zwischenwasser und Hinterstoder für ihre beispielhafte Baukultur preisgekrönt wurden. Eine Baukultur, die im ganzen alpinen Raum, von Südtirol über Vorarlberg bis Graubünden, einen enormen Aufschwung genommen hat. Deutschland wiederum grübelt seit 20 Jahren über seine schrumpfenden Regionen nach, nicht nur im Osten. Heute, da Berlin immer voller und teurer wird, ziehen immer mehr Menschen nach Brandenburg und Sachsen-Anhalt, intellektuell unterfüttert mit Landleben-heute-Romanen wie "Unterleuten" von Juli Zeh.
Dass nach 20 Jahren globaler Landflucht das Pendel jetzt zurückschlägt, ist logische Folge der Verstädterung, die irgendwann einen Gegentrend hervorrufen musste. China, wo die Urbanisierung rapide und massiv verlaufen ist und das als Synonym für gesteigerten Wohlstand gilt, erst recht. Dort bluten die Provinzen aus, werden zum Pensionistenreservat, die Flächen für die Landwirtschaft schrumpfen bedenklich. Erste Strategien für das Land wurden von der Zentralregierung bereits vor zehn Jahren entwickelt, jedoch nicht umgesetzt, stattdessen wucherten die Megacitys ungehindert weiter.
Es brauchte eine Initiative aus der Provinz selbst, um eine Veränderung anzustoßen: die Region Songyang in der Provinz Zhejiang. 240.000 Einwohner, 400 Dörfer, ein abgelegenes Idyll (der STANDARD berichtete im Dezember). Dort hat die Architektin Xu Tiantian und ihr Pekinger Büro Design and Architecture seit 2014 gemeinsam mit engagierten Lokalpolitikern und der Bevölkerung eine Strategie von architektonischen Akupunkturen entwickelt, die nicht nur schön anzusehen ist, sondern auch handfesten Erfolg bringt: kleine Zuckerrohr-, Tee- und Tofu-Fabriken, Ferienwohnungen in renovierten Dorfhäusern, Museen für lokale Kulturgeschichte. Hier ein Neubau, dort eine Renovierung, eine neu überdachte Brücke über den Fluss, und all das angereichert mit öffentlichen Räumen und Treffpunkten für die Dorfgemeinschaft.
Nachdem das Berliner Architekturforum Aedes auf Xu Tiantian aufmerksam wurde und ihr Werk Anfang des Jahres 2018 mit einer Ausstellung würdigte, macht Songyang jetzt am Architekturzentrum Wien Station. "Was Xu Tiantian dort angestoßen hat, ist weit über China hinaus relevant, weil man hier sieht, was man mit Architektur erreichen kann, nämlich viel mehr als nur ein tolles Gebäude", lobt AzW-Direktorin Angelika Fitz. Auch sie hält ein Verschieben des Fokus weg von der Stadt für dringend geboten. "Es wird ständig davon geredet, dass knapp über 50 Prozent der Weltbevölkerung heute in Städten leben. Aber kaum jemand erwähnt, dass knapp 50 Prozent immer noch auf dem Land leben."
Ihre Architektur sei nicht als Selbstzweck, sondern als Anstoß für einen langen Prozess der Erneuerung im Mikromaßstab zu verstehen, betont auch Xu Tiantian. "Wir entwickeln unsere Strategie der Akupunktur ständig weiter", erklärt sie. "Zum einen in Bezug auf dörfliche Wirtschaft und Produktion, die Interaktion zwischen Land und Stadt mittels touristischer Einrichtungen, zum anderen auf die Frage, wie man in den Dörfern, wo hunderte Häuser leerstehen, in Zukunft wieder wohnen kann."
Tourismus ist nicht alles: eine Lektion, die man auch woanders beherzigen sollte. Was können wir also von Songyang lernen? "Dass es um Strategien auf vielen Ebenen geht", so Fitz, "von der Architektur über Infrastruktur bis zum Breitband-Internet. Und gerade was die Zersiedelung betrifft, können wir in Österreich noch viel lernen."
Einen Trend zur progressiven Provinz beobachtet auch Architekt Roland Gruber, Gründer des Vereins Landluft, dessen Büro Nonconform bis heute rund 100 Dörfer und Gemeinden in Österreich und Deutschland betreut und die alle zwei Jahre stattfindende Leerstandskonferenz für Strategien in Schrumpfregionen mitinitiiert hat. Eine Erfolgsgarantie für eine Renaissance darbender Landstriche sei dieses Plus an Aufmerksamkeit aber keineswegs. "Es hängt sehr von den handelnden Personen und dem Gesamtumfeld der Region ab. Kompakte, dichtbebaute Orte haben es leichter als kleine Dörfer und zersiedelte Gegenden. Es braucht einen gewissen Grad an Dichte und Urbanität." Österreich sei, was die Stärkung der Dörfer betrifft, Pionier im deutschsprachigen Raum, gemeinsam mit Bayern und Südtirol.
Zum 20. Geburtstag belohnt sich der Verein Landluft mit einem zehntägigen Symposium namens "Landluft-Universität". Dazu kooperiert man mit der TU Wien, wo das Rurale aus der Lehre verschwunden ist, seit der Lehrstuhl fürs Bauen im ländlichen Raum aufgelöst wurde. Höchste Zeit, dass sich das ändert, so Roland Gruber, dass wieder gelernt wird, wie Entscheidungsprozesse im Dorf funktionieren und was Architekten dort tun können – nämlich, wie auch das Beispiel Songyang zeigt, sehr viel.
"Unser großer Wunsch wäre es, dass Studierende in Zukunft nicht nur ein Auslandssemester, sondern auch ein Aufs-Land-Semester verbrächten." Die Ausschreibung für den nächsten Baukulturgemeinde-Preis erfolgt Ende 2019. Gelegenheit für alle potenziellen Austro-Songyangs, sich ins Rampenlicht zu stellen.