Eine Ausstellung über die Sowjetmoderne im Architekturzentrum Wien erzählt von der Vielfalt das Bauens an den Rändern des Imperiums
Dass die flachen Weiten des Ostens von Minsk bis Sibirien eine Fülle von Geschichten bergen, bezeugt die Weltliteratur mehr als deutlich. Dass sich Erzählungen auch aus der vermeintlich in öden Apparatschikberichten dokumentierten Periode der Planwirtschaft destillieren lassen, zeigte zuletzt "Rote Zukunft", Francis Spuffords großartiger Doku-Roman-Hybrid über die vom Zukunftsoptimismus erfüllte Wirtschaftspolitik der Chruschtschow-Ära.
Parallel zur Neuorientierung zur "friedlichen Koexistenz" mit dem Westen in der Nach-Stalin-Ära sorgte das Tauwetter auch für fruchtbaren Boden auf dem Feld der Architektur. Der Zuckerbäckerstil wurde entsorgt, Chruschtschow wollte es lieber geradlinig, nüchtern und transparent. Als es nach seiner Entmachtung unter Breschnew zur Dezentralisierung der Wirtschaft kam, war dies der Startschuss für einen regionalen Formenreichtum im Bauen.
Neben öffentlichen Gebäuden, wie sie zur selben Zeit auch in den bürokratischen Großplanungen westlicher Städte wie London und Frankfurt entstanden, fanden sich diese zu zeichenhafter Simplizität verdichteten Formen in Hotels, Sportarenen, Fernsehtürmen und Denkmälern wieder.
Heute werden die spektakulärsten Bauten dieser Spätmoderne der 60er- und 70er-Jahre, wohl nicht zuletzt aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit der firmenlogoartigen Überwältigungsarchitektur der Nullerjahre, nach und nach wiederentdeckt. Auch die sowjetischen sind bereits zu Coffee-Table-Book-Würden gekommen, die Hintergründe blieben bisher aber meist ausgespart.
Das ändert nun die Ausstellung "Sowjetmoderne 1955-1991", die diese Woche im Wiener Architekturzentrum eröffnet wurde und die den perfekt passenden Untertitel Unbekannte Geschichten trägt. Denn Geschichten gibt es reichlich zu erzählen aus dem Vielvölkerstaat, in dessen zentral gesteuerter Planwirtschaft sich lokale Kuriositäten entwickelten und Traditionen nicht wegzubekommen waren.
Ursprünglich nur als Exkursion nach Armenien geplant, zeigt die Schau nun stolze 14 ehemalige Sowjetrepubliken. Aufgeteilt in vier Regionen, Baltikum, Osteuropa, Kaukasus und Zentralasien - Russland bleibt absichtlich ausgespart -, wird nun sichtbar, welche zum Teil ganz eigenen Wege das Bauen in den heute eigenständigen Staaten genommen hat.
In den von jeher stark an Mitteleuropa gebundenen baltischen Staaten konnte beispielsweise Estland auch zu Sowjetzeiten en ge Bindungen zu Finnland halten, hier waren Einfamilienhäuser im Eigenbau erlaubt, die öffentlichen Bauten sind geprägt von skandinavischer Präzision und wohnlicher Sparsamkeit. Als kurioses Zugeständnis an die katholisch geprägten Litauer wiederum wurden dort "Trauerpaläste" als Kirchenersatz errichtet.
Der Trick mit dem Mosaik
Dass das Klischee, hinter dem Eisernen Vorhang sei man von den Entwicklungen der westlichen Architektur abgeschottet gewesen, nicht zu halten ist, wie AzW-Leiter Dietmar Steiner bei der Eröffnung anmerkte, zeigen Bauten aus der Ukraine und Weißrussland. Der Sportpalast in Minsk von 1966 etwa ähnelt Roland Rainers zwei Jahre zuvor erbauter Stadthalle in Bremen, die Betonschalen des Krematoriums in Kiew nahmen Bezug auf das Opernhaus in Sydney.
Ebenso wurde im Sozialismus nicht von anonymen Kollektiven entworfen, es gab namhafte Architekturpersönlichkeiten, die sich in öffentlichen Wettbewerben messen durften. Bis ins Detail rigide durchgenormt war die Bauwirtschaft dennoch. Wie sich das austricksen ließ, zeigen vor allem die Geschichten aus dem Kaukasus und Zentralasien.
In Usbekistan entwickelten zwei schlaue Brüder eine Methode, genormte Fassadenplatten in handwerklicher Eigenarbeit ab Werk mit Mosaiken zu verzieren. In Georgien gelang es mit dem Argument, das lokale Klima und die Gefahr durch Erdbeben zwinge zur Anpassung der Wohnbauten von der Stange, dem Zentralstaat höhere Wohnräume und luftige Balkone abzutrotzen, und mit etwas Geschicklichkeit ließen sich architektonisch ahnungslosen Funktionären radikale Entwürfe als systemkonform verkaufen.
In Armenien hielt man die Bauprojekte künstlich so klein, dass sie den Genehmigungsprozess unterlaufen konnten, was Jerewan heute einen menschenfreundlichen Maßstab verleiht. Nach Protesten zum 50. Jahrestag des Massakers an den Armeniern von 1915 wurden außerdem nationale Bedürfnisse so weit anerkannt, dass man auf traditionelle Bauformen aus dem Mittelalter zurückgreifen konnte. Diese Mischung aus Archaik und Technologie, die auch bei Großbauten wie dem Kino Rossija und dem Flughafen Jerewan beeindruckt, macht Armenien zu einem der faszinierendsten unter den gezeigten Staaten.
Von ihren teils abenteuerlichen Reisen in die Weiten des Ostens brachten die Kuratorinnen Katharina Ritter, Ekaterina Shapiro-Obermair und Alexandra Wachter neben kistenweise Archivmaterial Reiseberichte, Interviews und Essays der beteiligten Architekten mit nach Wien. Diese unbekannten Geschichten aus der Innenperspektive sind der große Gewinn dieser Schau.
Die Ausstellung selbst verströmt, möbliert mit Tafeln in beamtenhaften Pastelltönen, authentisch bürokratisches Parteizentralenflair im Minsk-1967-Look. Leider kommt in diesem etwas anämischen Arrangement der überbordende Formenreichtum der Bauten, die Entdeckungsfreude und der erzählerische Charme der Architekten zu kurz.
Doch das tut der Wichtigkeit der Dokumentation keinen Abbruch. Unbestreitbar ist: Die technisch mutigen und architektonisch vielfältigen Bauten müssen sich in den Nachschlagewerken der Weltarchitektur nicht verstecken. Es lohnt sich also, einen vielleicht letzten Blick auf sie zu erhaschen: Viele der von den neuen Regimes meist ungeliebten Bauten sind vom Abriss ebenso bedroht wie ihre Verwandten aus der Nachkriegszeit im Westen.
(erschienen in: Der Standard, 10./11.11.2012)