Nächster Halt: Fuchs und Hase

Im schicken neuen Bahnhof Tullnerfeld, der am 9. Dezember eröffnet, werden täglich die Intercitys halten. Fraglich bleibt, ob auch jemand aussteigt.

"Route nach Unbekannte Straße" schlägt Google Maps mit zweifelnd gehobener "Meinten Sie...?"-Augenbraue vor, wenn man als Ziel den Bahnhof Tullnerfeld eingibt. Dabei liegt dieser, wie der Name schon sagt, unübersehbar mitten im Tullnerfeld, zwischen Michelhausen, Pixendorf und Langenrohr, direkt neben einem brandneuen Kreisverkehr an der idyllisch bezeichneten "Lieferbetonstraße".

Als schnurgerader Damm zieht sich die Bahn-Neubaustrecke Wien-St.Pölten durch die Felder südlich von Tulln. Mittendrin erspäht man ein flaches Dach, das knapp über die fugenlosen Lärmschutzwände ragt: Der Bahnhof. "ÖBB INFRA" prangt groß und stolz auf der Sichtbetonfassade, der eigentliche Name "Tullnerfeld" versteckt sich auf einem unscheinbaren Taferl davor. Wie ein vom Atem Antoni Gaudis oder Zaha Hadids ganz leicht durchhauchtes, breit geschwungenes Höhlengewölbe durchstößt die vom Wiener Architekt Günter Lautner entworfene Bahnhofshalle mit ihren Zugängen zu den vier Gleisen den breiten Damm, um am anderen Ende in eine geräumig-luftigen Halle mit Panorama-Glasfassade zu münden. Ein durch und durch urbanes Design, das man eigentlich eher in Madrid erwarten würde als im Mostviertel. Hinter dem Glas: Ein rurales Tableau aus Wiesen, Feldern, und dem Kirchturm des Örtchens Langenrohr am Horizont. Krähen und Lerchen in den Lüften, ein Traktor, sonst ist alles still. Noch sind die Türen verschlossen, die Sitzbänke im Warteraum leer, denn der Bahnhof eröffnet erst am 9.Dezember.

Wie aber kommt der Bahnhof in den Acker? Der Rohbau steht immerhin schon seit 2006 hier, er musste geduldig jahrelang warten, bis der Rest der Strecke fertiggestellt war. Zunächst war auf dem Tullner Abschnitt der Neubaustrecke Wien-Salzburg nur ein Halt für Regionalzüge und S-Bahnen geplant. Das war Landeshauptmann Erwin Pröll offenbar nicht genug, er bestand auf einem Intercity-Halt im schönen Mostviertel. Die ÖBB sträubte sich, dafür sagte deren Konkurrent Westbahn zu, was wiederum die ÖBB in buchstäblichen Zugzwang brachte. Resultat Nummer eins: Dank eines Österreich-typischen Kompromisses halten die Züge der Westbahn nun hier, allerdings nur in Richtung Wien, die der ÖBB dafür nur in Richtung Salzburg. Resultat Nummer zwei: Erwin Pröll bekam eine landesväterlich triumphierende Händeschüttel-Fotogelegenheit mit Verkehrsministerin Bures.

ÖBB hin, Westbahn her: Warum aber überhaupt ein 20-Millionen-Euro-Bahnhof? 42 Züge pro Tag werden hier nach der Eröffnung halten, 500 Parkplätze und vier Bushaltestellen und 50 Fahrradabstellplätze warten auf Pendler. Doch wo sind die? Die Gemeinde Michelhausen, auf deren Grund sich der Bahnhof befindet, hat gerade 2600 Einwohner, die Nachbargemeinden Langenrohr und Judenau-Baumgarten noch weniger. Die 7 Kilometer entfernt wohnenden Tullner werden wohl wie gehabt mit der Franz-Josefs-Bahn fahren, die es in 27 Minuten ohne Umsteigen bis Wien schafft.

Wozu in Zeiten, in denen Raumplaner tagein tagaus vor weiterer Zersiedelung und Motorisierung warnen, ein Bahnhof im Nichts, der nur mit dem Auto erreichbar ist? Die Antwort könnte darin liegen, dass die Felder zwischen Bahnhof und Nachbardörfern nicht mehr lange Felder bleiben: Der neu entstehende "Wohnpark Tullnerfeld" lockt mit 14 Hektar Bauland, 500 Meter Luftlinie vom Bahnhof entfernt. Die Riedergarten Immobilien GmbH aus Klagenfurt, die den Hauptanteil an der KommReal Michelhausen hält, plant, hier 15 Millionen Euro in Einfamilienhäuser, Reihenhäuser und Wohnanlagen zu investieren. Deren Website lockt die potentiellen Neubürger mit der Erreichbarkeit Wiens in 17 Minuten und dem reichlichen Tennisplatzangebot in der Umgebung.

Die ersten Parzellen sind bereits verkauft, laut Mitentwickler Auritas wird 2013 mit dem Bau der ersten 27 Wohnungen begonnen. Wie viele Einwohner letztendlich den 14-Hektar-Wohnpark bevölkern werden, darüber gibt man sich bei der Gemeinde noch bedeckt. Sicher ist: Vom Gewinn durch den Verkauf soll die Gemeinde Michelhausen laute Vereinbarung mindestens 10% erhalten. Und an weiteren Flächenreserven mangelt es nicht. Wer weiß, vielleicht wird 2050 der Intercity hier standesgemäß im Herzen von Tullnerfeld-City halten, der neuen Metropole im Westen von Wien. Ein schickerer Name für die Lieferbetonstraße wird sich bis dahin sicher gefunden haben.

 

(erschienen im FALTER, Heft 44/2012, 31.10.2012)