Tourismus: Drei Reisebücher, die keine Reiseführer sind, über Geschichte und Kunst des Unterwegsseins
Seit das Reisen nicht einfach Wegfahren bedeutet, sondern zu Tourismus und weiter zur Tourismusindustrie geworden ist, firmiert es als Lieblingsgegenstand von Forschung, Literatur und polemischer Kritik. Schon 1958 haute ihm Hans Magnus Enzensberger seine „Theorie des Tourismus“ um die Ohren: Romantik ohne Revolution, Ferne als Erlösung, die Sehenswürdigkeit als Befreiung vom schlechten Gewissen des Nichtstuns und der pikierte Dünkel der Pioniere über die nachfolgende Masse.
Daran hat sich nicht viel geändert. Allerdings hat, wie Enzensberger heute schreibt, im Easyjet-Zeitalter, in dem jeder Trafikant New York und Bali längst auswendig kennt, das Fernweh seinen Glanz verloren. Wie eine Wanderheuschrecke zieht der Mensch mit der Masse um die Welt.
Beide Enzensberger-Texte finden sich im Sammelband „Die Zukunft des Reisens“, herausgegeben von SZ-Feuilletonchef Thomas Steinfeld. Entstanden als Auftragsarbeit für den Schweizer Tourismuskonzern Kuoni, stellt er eine eigenartige Mischung aus Feuilleton und Marktforschung dar, eine Kombination, die dem Thema Tourismus wie angegossen passt.
In manchmal keine zwei Seiten kurzen, manchmal breit angelegten Essays (windungsreich: Roger Willemsens erschöpfende Abhandlung über Reiseliteratur, die tatsächlich bei Adam und Eva beginnt) finden das Damals, das Heute und das Morgen des Unterwegsseins zusammen. Das grenzt manchmal ans abgespreizt Elitäre, trifft aber fast immer ins Schwarze.
Etwa bei Wolfgang Scheppe, der in einer virtuosen Tour de Force den Homo touristicus seziert: den Urlaub als Erlaubnis zur Regeneration von Arbeitskraft, das Gebirge als Ziel des gehobenen Bürgertums auf der Suche nach Reinheit, den Strand als proletarisch-nivellierend – kurz: den Widerspruch, in einer Welt, in der fast jedes Ziel erreichbar erscheint, das Versprechen von Freiheit und Fremde einzulösen.
In der Folge analysiert Andrian Kreye den Einkaufstourismus (mit der schönen und lang überfälligen Aufzählung: „Dubai, Metzingen“) und Straßen in München und Manhattan, die immer mehr wie Shoppingmalls funktionieren, Zubehör für unterwegs wie Reiseführer, Mitbringsel und Reisebekanntschaften. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit ergibt sich so eine unterhaltsame wie tiefgehende Spekulation darüber, wo in Zukunft die Reise hingeht.
Ähnliche Kategorien finden sich in Andreas Altmanns „Gebrauchsanweisung für die Welt“. Auch hier werden die Grundbausteine des Reisens – Fortbewegungsmittel, Essen, Gefahr, Gewalt, Tricks – abgehandelt. Und Altmann, der vom Heroinhandel in Peschawar bis zum Polizeieinsatz in Südafrika einiges erlebt hat, ist ohne Zweifel der ideale Autor für dieses Buch.
Leider etwas zu ideal: Die Rundreisen im Metaphernkarussell („Der Schaum des magischen Moments, kann als Blitz auftreten oder mit einer Kerze“) können noch als unterhaltsam durchgehen. Ärgerlicher ist, dass die Großartigkeit des Reisens sich hier immer wieder an den von Altmann verachteten Daheimgebliebenen, den Spießern in ihren „Büros in Quakenbrück“, aufrichten muss. Als könne einem Abenteurer so etwas nicht wurscht sein (abgesehen davon, welche magischen Geheimnisse Quakenbrück bergen mag).
Schade, denn Altmann hätte viel zu erzählen, aber die „magischen Momente“ gehen unter in einer Flut aus Klaus-Kinski-Pathos („Ich fühle, als wäre ich die Erde selbst. Jede Warze Hässlichkeit, jeder Betonklotz, jede Schneise Raffgier ist ein Schwinger auf mein Herz“), dessen aufgeplustertes Raunen einem weniger das Faszinosum Fernweh näherbringt als die wettergegerbte Einzigartigkeit des Autors. So wird das Buch immer mehr zu einer Gebrauchsanweisung für Andreas Altmann.
Zwar nimmt er sich selbst von der Kritik nicht aus, am aufrichtigsten sind daher die Passagen über Bettler und Drogen, die zeigen, dass der Reisende in der Fremde kein edelmütiger Heiliger bleibt. Doch das ist spätestens dann dahin, wenn ihm kurz darauf in der schaurigsten Szene ein Chirurg die Hand dramatisch um das offene Herz eines Operierten legt: „Es zuckt, flüsterte ich, ungläubig wie ein Kind.“
Bescheidener, langsamer und stiller geht es in Annett Gröschners Reisegeschichten zu, die im Band „Mit der Linie 4 um die Welt“ versammelt sind. Von Aix-en-Provence bis Zürich hat sie sich in die jeweilige Vierer-Linie gesetzt – diese Zahl trug auch die Straßenbahnlinie ihrer Magdeburger Kindheit. Sich bei der Stadterkundung selbst gesetzten willkürlichen Regeln zu unterwerfen, das wussten schon die Situationisten, schärft den Blick für das Unbekannte.
So zieht Gröschner durch jede Stadt einen linearen Wahrnehmungsausschnitt entlang von Straßenbahn- und Buslinien, ruhig beobachtend, nebenbei Hintergrundinformationen einflechtend. Trainspotting von innen sozusagen. Wer wusste schon, dass Alexandria die einzige Straßenbahnlinie Afrikas besitzt, und das seit 1860?
Ergänzt um wunderbare Schwarzweißfotos von Arwed Messmer und der Autorin selbst, wie nebenbei aufgenommen, oft verschwommen, durch zerkratzte Scheiben, begegnen wir schrulligen alten Damen mit Schoßhündchen in Manhattan, rattern durch die Steppenwinde von Kasan und Kasachstan, durchmessen die asiatischen Suburbs von Istanbul und umrunden in mehreren Etappen die Innenstadt Berlins – der längste, dichteste und auch kritischste Reisebericht, wohl weil die Autorin hier seit Jahren lebt. Mit der „Krawallseifenoper“ der besoffenen europäischen Jugend, den „Prenzlbergwichsern“, stillen Industriehinterhöfen und kleinen Inseln des ganz alten Berlins.
Die Wiener Buslinie 4A ist dagegen zwar weniger aufregend, doch die linearen Exkursionen zeigen, dass die Reise ins Unbekannte auch heute noch unvermutet hinter der Ecke lauert.