Exilierte auf der Globalen Straße: Interview mit Saskia Sassen

Überwachung und Armut, Vertreibung und Protest: Soziologin Saskia Sassen erklärt, wie Sicherheit und Unsicherheit unsere globalen Städte prägen

Kaum etwas hat auf den Agenden der Nationalstaaten der westlichen Welt solche Priorität gewonnen wie die Sicherheit. Gleichzeitig bricht immer mehr Bürgern der Boden unter ihrem eigenen Leben weg. Die amerikanische Soziologin und Stadtforscherin Saskia Sassen beschäftigt sich seit mehr als 30 Jahren mit den Fragen des globalen Zusammenhalts. Vorige Woche hielt Saskia Sassen die Eröffnungsrede beim Symposion Dürnstein, das dieses Jahr unter dem Leitthema "Risiko Sicherheit" stand.

Der Drang nach kompletter Sicherheit und Überwachung wird immer stärker. Gefährdet die Angst vor dem Ungewissen die Urbanität unserer Städte?

Sassen: Sicherheit ist heutzutage kein unschuldiger Begriff mehr. Wenn man Sicherheit so versteht, dass alles unter Kontrolle sein soll, wenn Leute in abgeschlossenen Gated Communities leben, ist sie ein deurbanisierender Faktor. Die Sicherheit des Einzelnen ist jedoch etwas ganz anderes als nationale Sicherheit. Meine These ist, dass die nationale Sicherheit der Staaten ein Mehr an urbaner Unsicherheit für die Bürger erzeugt – zum Beispiel wenn unter der Fahne der nationalen Sicherheit Kriege geführt werden und Städte wie Madrid Schauplätze der asymmetrischen Kriegsführung werden.

Sie wohnen und lehren in den USA. Wie hat die Maxime der nationalen Sicherheit das Zusammenleben dort beeinflusst?

Sassen: Die Washington Post hat 2010 aufgedeckt, dass es in US-Städten 10.000 Gebäude gibt, in denen rund eine Million Menschen damit beschäftigt ist, die Bürger zu überwachen. Ich erwähne das oft in Vorträgen, und noch heute wissen das die meisten Amerikaner nicht. Dinge, die einem vor der Nase stehen, können trotzdem unsichtbar sein.

Als die wesentliche Bedrohung unseres sozialen Friedens nennen Sie die Vertreibung. Um welche Vertreibungen geht es Ihnen genau?

Sassen: Es gibt heute mehr Ungleichheit, mehr Armut, mehr Flüchtlinge, mehr Gefängnisinsassen, mehr Überwachung, mehr Leute, die aus ihren Häusern geworfen werden, weil sie die Hypotheken nicht mehr zahlen können. Üblicherweise sieht man diese Entwicklungen als separate Trends an. Aber als ich merkte, dass in den letzten 30 Jahren all diese Dinge massiv zugenommen haben, habe ich mich gefragt: Was sehe ich denn hier eigentlich? Und dann erkannte ich: Was hier stattfindet, sind Vertreibungen.

Wer ist von diesen Vertreibungen betroffen?

Sassen: Wenn man die Occupy-Bewegung, die Proteste auf dem Tahrir-Platz oder die spanischen Indignados betrachtet, sind das vor allem Mittelklassekids. Diese haben bisher brav die Regeln befolgt, haben studiert, sind nie straffällig geworden. Jetzt aber merken sie, dass sie sich den Lebensstandard ihrer Eltern nie leisten können und keine Jobs bekommen. Sie wurden also aus dem Versprechen eines Privilegs vertrieben. Gerade liberale Staaten kamen bisher vor allem der Mittelklasse zugute, aber plötzlich merkt diese Mittelklasse: Wir sind aus unserem versprochenen Lebensprojekt vertrieben worden!

Sind die Proteste auf den Plätzen von Kairo und New York ein Signal dafür, dass der öffentliche Raum wieder ein politischer Raum geworden ist?

Sassen: Der Raum für Protest kann ein physischer sei, oder auch ein digitaler. Straßenkämpfe und Demonstrationen hat es schon immer  gegeben, mit dem Unterschied, dass es heute gleichzeitig an so vielen Orten weltweit geschieht und dass  es ein wesentlicher Aspekt dieser Proteste ist, dass spezielle Orte in wichtigen Städten besetzt werden. Das hat eine epochale Bedeutung! Also habe ich ein Modell entwickelt, das diese positiven Tendenzen zusammenfasst: Ich nenne es "Die globale Straße".

Was bedeutet die Globale Straße konkret?

Sassen: Eine Straße ist per se kein Ort für rituelle Routine, sondern ein Raum, in dem neue soziale und politische Formen entstehen können. Städte sind Orte, an denen die Machtlosen Geschichte machen können. Dadurch, dass sie füreinander sichtbar werden, können sie diese Machtlosigkeit ändern. Wie der Arabische Frühling gezeigt hat, muss das nicht heißen, dass sie auch Macht gewinnen. Aber sie machen Politik. Raum zu besetzen heißt, die oft höchst undemokratischen Regeln der Macht und die eigene Rolle als Bürger neu zu definieren.

Wie kann das auf den Straßen der Dritten Welt funktionieren, wo Slums rapide wachsen?

Sassen: Die meisten Slums sind in der Tat Orte des Elends, aber manche von ihnen sind globale Slums. Sie sind Orte des Wandels geworden und kommunizieren miteinander über Ländergrenzen. Diese globalen Slums wachsen durch den Zustrom neuer Migranten, die von ihrem Grund und Boden vertrieben wurden – etwa wenn China im Kongo Land für Biospritplantagen in großem Stil aufkauft. Ihnen ist Gewalt widerfahren, also verstehen sie, wie das System funktioniert. Sie sind politisiert.

Wie können diese Menschen in den Slums etwas verbessern?

Sassen: Indem sie ihre Wirtschaft selbst erzeugen. In den Barrios von Buenos Aires zum Beispiel sind die Müllsammler zu Ökounternehmern geworden. In China haben Arbeiter in den Städten mit Erfolg vom Staat ein Stück Land gefordert, um dort, im Landesinneren, mit dem Wissen, das sie sich in den Städten erworben haben, ihre eigenen Unternehmen zu gründen.

Sie haben vor rund 20 Jahren den Begriff der "Global Cities" geprägt. Ist dieses Modell heute noch gültig?

Sassen: Absolut. Heute gibt es etwa 100 Global Cities. Wenn heute ein dynamischer Staat wie die Türkei Teil der Weltwirtschaft wird, passiert diese Vernetzung in Ankara und Istanbul.

Welche speziellen Fähigkeiten brauchen Städte, um Global Cities zu werden?

Sassen: Es gibt verschiedene globale Netzwerke, deren Teil die Städte sind. In China gibt es vier Finanzzentren, die alle völlig unterschiedlich sind. Andere Städte wie Zürich oder Santiago dienen dank ihrer Sicherheit  als Plattformen für ganze Kontinente.

Welche Rolle schreiben Sie Wien in diesen globalen Netzwerken zu?

Sassen: Falls wir sozialen Fragen wie der Gesundheit die globale Priorität einräumen, die heute die Finanzwelt hat, werden drei Städte sehr wichtig werden, und zwar Genf, Wien und Nairobi. Genf und Wien, weil dort die wichtigen internationalen Einrichtungen ihren Sitz haben, ebenso wie das UN-Habitat in Nairobi.

Vertriebene, Slumbewohner, Machtlosigkeit – was fasziniert Sie als Stadtsoziologin gerade an diesen Themen?

Sassen: Sehen Sie, ich bin in Argentinien aufgewachsen, zu einer Zeit, als das Verschwinden an der Tagesordnung war. Vielleicht bin ich deshalb so leidenschaftlich an diesen sozialen Zuständen interessiert, weil sie ständig davon bedroht sind, unsichtbar zu werden. Das treibt mich mehr an, als nur globale Machthabende zu beschreiben. Es ist einfach eine Frage des Geschmacks.

Erschienen in: 
Der Standard, 23./24.2.2013