Peking

Bevor neues Zeugs im Kapitel “Über Orte” dazukommt, wird erst mal altes rausgehauen. Das hier und die folgenden Chinatexte sind aus dem Jahr 2008.

 

Vorher Nachher Bilder

Jeder macht sich, bevor er auf Reisen geht, ein Bild von seinem Ziel, einer Stadt, in der er noch nie vorher war. Dieses Bild ist ein Destillat aus Zeitungslektüren, Klischees und Stereotypen, Erzählungen von Freunden, Schlagworten aus Reiseführern, und herbeigegoogelten Bildern, das sich zu einer Topographie formt, einem dreidimensional zusammengepuzzelten Gesamtbild eines Ortes, das so nur im eigenen Kopf existiert, und das unwiederbringlich verdampft, sobald man am realen Ort eingetroffen ist.

So wie man ein Buch nie mehr unvoreingenommen lesen kann, sobald man den Film dazu gesehen hat, lässt sich dieses Bild nie wieder rekonstruieren. Ausser, man schreibt es vorher auf und kann dann vergleichen. Im Falle von China waren die Stereotypen eindeutig definiert, und eigentlich wollte ich da auch gar nicht hin.

Die Halbinformationen, die über die Jahre aus Medien und Freunden herausquollen, ergaben ein Destillat, das sich mit den Begriffen “mühsam, undurchdringlich, Smog, grau, Herumgespucke, Angestarrtwerden, Repressionen, quäkende Musik, Nichtvorhandensein von Hilfsbereitschaft, Todesstrafe” zusammenfassen ließ. Wenn aber das Weltgefüge einem den Teppich zu einem kleinen Ausflug ausrollt,  guckt man aber dann doch, wie China so ist.

Quadrate im Nebel

Das Bild von Peking (endlose monotone, geklonte, grau überkrustete Häuserblocks im Smog) ist nahezu deckungsgleich mit der Realität. Denn auf der Fahrt vom brandneuen Flughafen ins Stadtzentrum ist das Ziel auch für den ortsunkundigen Besucher nicht zu verfehlen: man muss einfach immer in die Wand aus Kohlenmonoxid hineinfahren, die vor einem die zwölfspurige Strasse entlangrollt. Alles an Peking ist breit und mehrspurig. Breit, mehrspurig und rechteckig, von oben ähnelt die Stadt einer mit Geodreieck gezeichneten Zielscheibe, denn sie wächst in konzentrischen Quadraten. Nach dem letzten Quadrat, welches aus dichtgedrängten Wohnhochhäusern besteht, hört Peking plötzlich einfach auf. Kein Peripheriegedudel mit Tankstellen, Matratzen-Concord und McDrive, nach der letzten brandneuen Gated Community beginnt sofort die staubige Steppe. 

Peking ist bei aller Rechteckigkeit und Regelmäßigkeit schwer zu fassen, die unbewohnte Verbotene Stadt und die Wüstenei des Tiananmen-Platzes sind das geographische Zentrum der Stadt, aber eine lebendige Mitte, eine Bündelung von Quirligkeit gibt es nicht, und man ist tagelang irritiert, weil etwas zu fehlen scheint. Dabei sind alle mehrspurigen und einspurigen Strassen gleichermaßen gefüllt, überall wird gleichermaßen gegessen, verkauft, repariert, gekocht, Wäsche aufgehängt, abgerissen, neugebaut, lachen westliche Gesichter von riesigen Werbetafeln. Straßenschluchten existieren hier nicht. Erst im Nachhinein bemerkt man, wie schön diese Gleichmäßigkeit und Proportioniertheit eigentlich ist, erst wenn man Peking verlassen hat, begreift man es.

Das nächste Vorurteil löst sich binnen Stunden in Smog auf: Man wird auch als einzige Langnase in Suppenausschänken und Strassen eben nicht angestarrt, sondern höflich ignoriert oder mit vergnügter Neugier beobachtet. Wenn man nicht gerade einen Raubkopienflohmarkt (“Looka Looka SIR! Nice watch!”) oder eine Verbotene Stadt (“want guide?”) besucht, wird das auch überall in China so bleiben.

Nun gut, es kann auch passieren, dass man über den gesamten, sehr sehr breiten, sehr sehr rechteckigen und ausserdem sehr sehr großen Tiananmen-Platz hinweg von ganzen Uhrverkäufer-Dynastien verfolgt wird, aber immerhin lenkt das von der doch sehr ereignisarmen Optik dieser von zwei düsteren stalinistischen Großklumpen flankierten staubigen Leere ab, und auch von den düsteren Gedanken, die man sich geschichtsbedingt an diesem Platz macht. Zudem wird gerade der letzte Tag der chinesischen Neujahrsfeiern begangen, also die letzte Gelegenheit, die Restbestände an Feuerwerken wegzukrachen, und der ansonsten zwangsweise leere Platz (Herumstehverbot für Gruppen von mehr als fünf Leuten) ist ausnahmsweise mit jauchzenden und aufgeregt mit Krachgut hantierenden Menschen gefüllt, dazwischen hin und wieder ein einsamer Soldat mit einem Feuerlöscher zu seinen Füßen.

Uniformierte sind überall, selbst in Discos stehen sie Spalier um den Dancefloor, trotzdem will sich das bedrückende Gefühl, sich in einem autoritären Staat mit Nonstopüberwachung zu befinden, nicht so richtig einstellen.

In den Hutongs, den engen Gassen, durch die damals die Demonstranten gejagt wurden, werfen Kinder tonnengroße Böller aus Hauseingängen, fahren Greise laut klingelnd mit Dynamitbergen auf der Ladefläche ihres Fahrrads durch den Schwefeldampf, stehen Großfamilien lachend vor knatternden Scheiterhaufen. Der Chinese an sich liebt offensichtlich das Blinkende, Lärmende und Rauchende, aber davon später mehr, wenn wir uns dem Thema “Straßenverkehr” zuwenden.

Das Essen ist übrigens fantastisch, lediglich der Tofu ist dasselbe nutzlose Würfelstyropor wie bei uns. WCs gibt es in den Hutongs nur öffentliche, auch Restaurants haben keine eigenen, und so entleert man erstaunt die Tsingtaobierblase wenige Zentimeter neben zeitunglesend kackenden Chinesen, denn die öffentlichen WCs unterschieden sich nur insofern von französischen Campingplatzklos, als sie keinerlei Trennwände haben.

Nachts hält das Taxi vor einem brandneuen Bürohochhaus, zwei schwerbewaffnete Uniformierte öffnen die Tür, was wir hier wollten. “Lan Club?” Zwei Gesichter beginnen zu strahlen, und die als Soldaten verkleideten Kinder eskortieren uns mit aufgeregtem “Yes! Yes!” zum Lift. Der Lan Club füllt ein ganzes Geschoss, und er füllt es mit Hunderten von Kronleuchtern, Barocksesseln, Bilderrahmen, Spiegeln, goldenen Greifvögeln, meterlangen von innen leuchtenden Tischen und Vitrinen voller Taufkerzen. Das bekommt man also, wenn man Philippe Starck einfliegt und eine Truhe voll Gold vor ihm auskippt mit den Worten “Wir geben dir 5000 Kubikmeter Raum. Stopfe sie mit Luxus voll. Plündere katholische Kirchen, wenn es sein muss.” Erstaunlicherweise wird pompöser Luxus, wenn man eine ganze Turnhalle davon hat, nicht peinlich, sondern ungebremster Spaß, den man sich auch nicht verderben lassen sollte von den westlichen Jungschnöselhorden, die zum vom europäischem DJ aufgelegten lauwarmen R&B sehr schlecht tanzen, und auch nicht von den Business-Silberrücken, die ihre zierlichen Trophäenchinesinnen an der kilometerlangen Bar parken.

 

 

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